: Virginia Woolf
: Klaus Reichert
: Die Fahrt hinaus Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104904870
: Virginia Woolf, Gesammelte Werke
: 1
: CHF 9.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nach einer behüteten Kindheit bei ihren »kleinen, ziemlich blassen« Tanten in Richmond bricht Rachel Vinrace auf dem Schiff ihres Vaters, der ?Euphrosyne?, nach Südamerika auf. Während dieser ?Fahrt hinaus? erfährt sie zum erstenmal »eine Offenbarung ihrer eigenen Persönlichkeit, eine Offenbarung von sich selbst als wirklichem, dauerhaftem Ding, verschieden von allem anderen, unverschmelzbar, wie das Meer oder der Wind«. In Santa Marina wird Rachel in den privilegierten englischen Zirkel aufgenommen, aber sie ist abgestoßen von der sterilen Selbstzufriedenheit der Menschen, denen sie dort begegnet. Selbst die Liebe und das Glück, die sie mit dem jungen Schriftsteller Terence Hewett findet, können sie nicht völlig befriedigen, denn »sie wollte viel mehr als die Liebe eines einzigen Menschen«. Rachels plötzlicher Tod unterstreicht die Hoffnungslosigkeit und zugleich die Schönheit ihres romantischen Idealismus.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

1. Kapitel


Da die Straßen, die vom Strand zum Embankment hinabführen, sehr schmal sind, geht man dort besser nicht Arm in Arm entlang. Tut man es dennoch, werden Kanzleischreiber mit hastigen Sprüngen in den schmutzigen Rinnstein ausweichen müssen, junge Schreibfräulein genötigt sein, hinter einem den Schritt zu verhalten. In den Straßen von London, wo die Schönheit unbemerkt geht, muß die Exzentrik die Zeche bezahlen, und man tut gut daran, nicht sehr groß zu sein, kein langes blaues Cape zu tragen und nicht mit der Linken in der Luft herumzufuchteln.

Eines Nachmittags Anfang Oktober, als der Verkehr lebhaft wurde, schritt ein großer Mann mit einer Dame am Arm am Rand des Trottoirs entlang. Wütende Blicke trafen beider Rücken. Die kleinen, aufgebrachten Gestalten – denn im Vergleich mit diesem Paar sahen die meisten Menschen klein aus –, die mit Füllfederhaltern geschmückt und mit Aktenkoffern beladen waren, hatten Termine einzuhalten und bezogen Wochenlöhne, so daß der unfreundliche bohrende Blick, mit dem Mr Ambroses Länge und Mrs Ambroses Cape bedacht wurden, nicht ganz unbegründet war. Irgendein Zauber hatte jedoch Mann wie Frau unerreichbar für Boshaftigkeit und Abneigung gemacht. In seinem Fall ließen die Lippenbewegungen ahnen, daß es Gedanken waren; und in ihrem die Augen, die versteinert oberhalb der durchschnittlichen Blickhöhe vor sich hin starrten, daß es Kummer war. Nur indem sie alle, denen sie begegnete, mit Verachtung strafte, gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten, und die Berührung mit denen, die sie im Vorübergehen streiften, war ihr sichtlich unangenehm. Nachdem sie den Verkehr am Embankment ein Weilchen mit stoischem Blick betrachtet hatte, zupfte sie ihren Gatten am Ärmel, und sie überquerten die Straße mitten im lebhaften Fluß der Automobile. Als sie wohlbehalten auf der anderen Straßenseite angelangt waren, löste sie sanft ihren Arm aus seinem und ließ es zugleich geschehen, daß ihr Mund sich entspannte und zu zittern anfing; dann rollten Tränen herab, und die Ellbogen auf die Balustrade gestützt, schützte sie ihr Gesicht vor den Blicken Neugieriger. Mr Ambrose unternahm einen Versuch, sie zu trösten; er tätschelte ihr die Schulter; doch sie gab durch nichts zu verstehen, daß solches erwünscht sei, und da es ihn mit Unbehagen erfüllte, neben einem Kummer zu stehen, der größer war als sein eigener, verschränkte er die Arme hinter dem Rücken, wandte sich ab und schritt das Trottoir entlang.

Das Embankment weist in Abständen Vorsprünge auf, die an Kanzeln denken lassen; statt von Predigern werden sie jedoch von kleinen Jungen in Beschlag genommen, die von dort Schnüre hinabbaumeln lassen, Kiesel werfen oder zusammengeknülltes Papier auf Kreuzfahrt schicken. Ihr geschultes Auge machte in Mr Ambrose sofort den Exzentriker aus, und sie neigten zu der Schlußfolgerung, daß er furchteinflößend sei; der Aufgeweckteste schrie dennoch »Blaubart!«, als er vorüberging. Für den Fall, daß sie als nächstes seine Frau aufs Korn nehmen sollten, drohte Mr Ambrose ihnen mit dem Stock, woraufhin sie zu dem Schluß gelangten, daß er lediglich wunderlich sei, und statt des einen schrien nun vier »Blaubart!« im Chor.

Obwohl Mrs Ambrose völlig reglos stand und dies viel länger, als natürlich ist, ließen die kleinen Jungen sie in Ruhe. Irgend jemand schaut immer in der Nähe der Waterloo Bridge ins Wasser; da steht an einem schönen Nachmittag ein Paar eine halbe Stunde ins Gespräch vertieft; die meisten Menschen, die dort zu ihrem Vergnügen entlanglaufen, schauen drei Minuten lang nachdenklich hinab und gehen dann weiter, wenn sie diesen Anlaß mit anderen Anlässen verglichen haben oder ihre Lebensweisheit einen Schlußpunkt gesetzt hat. Zuweilen sehen die Wohnh