: Virginia Woolf
: Klaus Reichert
: Die Wellen Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104904924
: Virginia Woolf, Gesammelte Werke
: 1
: CHF 10.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
?Die Wellen?, Virginia Woolfs sechster Roman, wurde 1931 veröffentlicht. Es ist das originellste und tiefgründigste all ihrer Bücher, vielleicht ein Meisterwerk, ein »Klassiker« (E. M. Forster). »Die Wellen«, schrieb Stephen Spender, »das mir als größtes Werk Virginia Woolfs erscheint, ist einer dieser Romane unserer Zeit, der seit dem Tag, an dem er veröffentlicht wurde - vor beinahe zwanzig Jahren -, eine immer größere Wirkung entfaltet hat.« In den ?Wellen? sind sechs Personen versammelt. Ihre Stimmen evozieren die Intensität der Kindheit, die Zuversicht und sinnliche Erfahrung der Jugend, das Losgelöstsein des mittleren Alters. Sinneswahrnehmungen, Emotionen, Reflexionen kommen und gehen im Voranschreiten des Erzählstroms wie die Jahreszeiten, wie die Wellen, die Sonne. Virginia Woolfs farbig instrumentierte Beschwörung der Entwicklung von Bernard, Louis, Neville, Rhoda, Jinny und Susan - sechs ganz unterschiedliche Stimmen -, ihre kunstvolle Darstellung der Ebbe und Flut ihrer sinnlichen und intellektuellen Erfahrungen stellt eines der radikalsten Experimente der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts dar. ?Die Wellen? ist die höchst eigenwillige Antwort der Moderne auf das traditionsreiche Genre des Bildungsromans.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Die Wellen


Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Meer und Himmel ließen sich nicht unterscheiden, nur daß das Meer leicht gefältelt war wie ein zerknittertes Tuch. Allmählich, während der Himmel weiß wurde, erstreckte sich eine dunkle Linie am Horizont, die das Meer vom Himmel trennte, und das graue Tuch wurde von dicken Streifen durchzogen, die sich, einer nach dem anderen, unter der Oberfläche bewegten, einander folgend, einander jagend, immerzu.

Sowie sie sich der Küste näherten, hob sich ein Streifen nach dem anderen, schob sich hoch, brach und wischte einen dünnen Schleier weißen Wassers über den Sand. Die Welle hielt inne und zog sich dann wieder zurück, seufzend wie ein Schlafender, dessen Atem unbewußt kommt und geht. Allmählich wurde der dunkle Streif am Horizont klar, als hätte sich die Ablagerung in einer alten Weinflasche gesetzt und das Glas erschiene wieder grün. Dahinter klärte sich auch der Himmel, als hätte sich dort die weiße Ablagerung gesetzt, oder als höbe der Arm einer Frau, die hinterm Horizont ruhte, eine Lampe in die Höhe, und nun breiteten sich flache Streifen von Weiß, Grün und Gelb über den Himmel aus wie die Finger eines Fächers. Dann hob sie ihre Lampe höher, und die Luft schien auszufasern und sich von der grünen Oberfläche zu lösen, sie flackerte und flammte in roten und gelben Fasern wie rauchendes Feuer, das aus einem Freudenfeuer aufprasselt. Allmählich verschmolzen die Fasern des brennenden Freudenfeuers zu einem einzigen Dunst, einem weißen Glast, der das Gewicht des wollnen grauen Himmels emporhob und in eine Million hellblauer Atome verwandelte. Die Meeresoberfläche wurde langsam transparent und lag gekräuselt und glitzernd da, bis die dunklen Striche nahezu weggewischt waren. Langsam hob der Arm, der die Lampe hielt, sie höher und dann noch höher, bis eine breite Flamme sichtbar wurde; ein Feuerbogen loderte am Rande des Horizontes, und rund um ihn her lohte das Meer golden.

Das Licht traf die Bäume im Garten, machte erst ein Blatt transparent und dann ein zweites. Ein Vogel zwitscherte hoch oben; es gab eine Pause; ein anderer zwitscherte weiter unten. Die Sonne hob die Mauern des Hauses scharf hervor und ruhte wie die Spitze eines Fächers auf einem weißen Rouleau und machte einen blauen Schattenfingerabdruck unter das Blatt am Schlafzimmerfenster. Das Rouleau bewegte sich leicht, doch drinnen war alles gedämpft und gestaltlos. Die Vögel sangen draußen ihre ungereimte Melodie.

 

 

 

 

»Ich sehe einen Ring«, sagte Bernard, »der über mir hängt. Er bebt und hängt in einer Lichtschlaufe.«

»Ich sehe eine Tafel aus blassem Gelb«, sagte Susan, »die sich verbreitert, bis sie auf einen Purpurstreifen trifft.«

»Ich höre ein Geräusch«, sagte Rhoda, »tschirp, zirp; tschirp, zirp, das auf- und niedersteigt.«

»Ich sehe eine Kugel«, sagte Neville, »die als Tropfen an den riesigen Flanken eines Hügels hängt.«

»Ich sehe eine feuerrote Troddel«, sagte Jinny, »die mit Goldfäden durchwirkt ist.«

»Ich höre etwas stampfen«, sagte Louis. »Der Fuß eines großen Tieres ist angekettet. Es stampft und stampft und stampft.«

»Seht doch das Spinnennetz an der Balkonecke«, sagte Bernard. »Es ist von Wasserperlen überzogen, Tropfen weißen Lichts.«

»Die Blätter sind um das Fenster versammelt wie gespitzte Ohren«, sagte Susan.

»Ein Schatten fällt auf den Pfad«, sagte Louis, »wie ein angewinkelter Ellbogen.«

»Inseln von Licht schwimmen auf dem Gras«, sagte Rhoda. »Sie sind durch die Bäume gefallen.«

»Die Augen der Vögel leuchten in den Tunnels zwischen den Blättern«, sagte Neville.

»Die Stengel sind mit rauhen, kurzen Härchen bedeckt«, sagte Jinny, »und Wassertropfen sind an ihnen hängengeblieben.«

»Eine Raupe ist zu einem grünen Ring zusammengerollt«, sagte Susan, »eingekerbt, mit stumpfen Füßen.«

»Die Schnecke mit dem grauen Haus zieht über den Pfad und drückt die Grashalme hinter sich platt«, sagte Rhoda.

»Und glühende Lichter von den