: Virginia Woolf
: Klaus Reichert
: Die Jahre Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104904900
: Virginia Woolf, Gesammelte Werke
: 1
: CHF 10.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zerrissen zwischen »akuter Verzweiflung« und »natürlichem Vergnügen« arbeitet Virginia Woolf vier Jahre lang an ihrem vorletzten und umfangreichsten Roman ?Die Jahre?. Immer wieder vertraut sie zwischen dem Oktober 1912 und dem April 1936 die Qualen des Schreibens und Umschreibens, aber auch die Augenblicke eines »sehr glücklichen freien Gefühls« ihrem Tagebuch an. Und als das »wunderlichste« ihrer »Abenteuer« bei seinem Erscheinen im März 1937 von der Presse als ein Meisterwerk gefeiert wird und wochenlang an der Spitze der bestgehenden Titel der ?Herald Tribune? steht, notiert sie erleichtert und stolz: »Es wurden 25 000 Exemplare verkauft - bei weitem mein Rekord.« Dieser Erfolg mag nicht zuletzt auf die bei Virginia Woolf überraschende, auf den ersten Blick fast konventionelle Erzählweise zurückzuführen sein, auf den konkreten chronologischen Handlungsablauf eines Generationsromans zwischen 1880 und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist, schreibt sie, »natürlich verschieden von den andern: hat, glaube ich, mehr ?wirkliches? Leben in sich...« Dieses ?wirkliche Leben? verkörpert die Londoner Offiziersfamilie Pargiter, bestehend aus den Eltern, Kindern und Enkeln. Zunächst leben sie noch alle zusammen auf dem alten Familienbesitz ?Abercorn?, die todkranke Mutter und der Oberst mit seinem schmuddligen Geheimnis von der kleinen Mätresse, die drei Söhne und die vier Töchter. Feste werden gefeiert und Liebschaften geknüpft. Aber die Tage, Wochen und Jahre vergehen und führen unabänderlich jeden seinem eigenen individuellen Schicksal entgegen, führen zu Ehen, Geburt und Tod, zu Glück, Geselligkeit und Einsamkeit. Und doch hat Virginia Woolf, »die Dichterin des fließenden Erlebens, des Bewußtseinsstroms«, die Zeit angehalten durch das Immerwiederkehren gleicher Augenblicke. Erinnerungsschübe verbinden auseinandergerissene Schicksale über mehr als fünfzig Jahre, verknüpfen Gegenwart und Vergangenheit.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

1880


Es war ein launischer Frühling. Das Wetter, sich ständig verändernd, jagte Wolken aus Blau und Violett über die Erde. Auf dem Land schauten Bauern, die über ihre Felder blickten, sorgenvoll; in London klappten Menschen, die zum Himmel aufsahen, ihre Schirme auf und wieder zu. Doch im April mußte man mit derartigem Wetter rechnen. Tausende von Verkäufern und Verkäuferinnen machten diese Bemerkung, während sie Damen in gerüschten Kleidern, die bei Whiteley's oder in den Army and Navy Stores[1] auf der anderen Seite des Ladentischs standen, ordentlich geschnürte Päckchen überreichten. Endlose Prozessionen von Kauflustigen im West End und Geschäftsleuten im East End paradierten über die Bürgersteige wie unaufhörlich dahinziehende Karawanen – wenigstens wollte es jenen so scheinen, die einen Grund zum Verweilen hatten, sagen wir, um einen Brief einzuwerfen, oder am Fenster eines Clubs in der Piccadilly. Der Strom der Landauer, Victorias und Hansoms nahm kein Ende; denn die Saison fing an. In den ruhigeren Straßen ließen Musiker ihre brüchigen und meistenteils melancholischen Weisen ertönen, die ihr Echo, oder ihre Parodie, im Tschirpen der Spatzen und in den plötzlichen Ausbrüchen der amourösen, aber immer wieder stockenden Drosseln fanden, hier in den Bäumen des Hyde Park, hier in denen von St. James's[2]. Tauben trippelten in den Baumwipfeln der Squares hin und her, ließen hier und da ein Zweiglein fallen und gurrten unaufhörlich ihr immer wieder unterbrochenes Wiegenlied. Die Tore von Marble Arch und Apsley House[3] waren am Nachmittag blockiert von buntgewandeten Damen, die Tournüren trugen, und von Herren in Gehröcken, die Stöcke schwangen, Nelken trugen. Hier kam die Prinzessin, und Hüte wurden gelüftet, als sie vorüberfuhr. In den Souterrains der langen baumgesäumten Straßen der Wohnviertel bereiteten Dienstmädchen in Häubchen und Schürzen den Tee vor. Auf Umwegen aus dem Souterrain heraufgetragen, wurde die silberne Teekanne auf den Tisch gestellt, und junge Mädchen und alte Jungfern mit Händen, die die Schmerzen von Bermondsey und Hoxton[4] gelindert hatten, maßen bedachtsam ein, zwei, drei, vier Löffel Tee ab. Als die Sonne unterging, blühten Millionen kleiner Gaslichter, den Augen von Pfauenfedern gleich, in ihren gläsernen Käfigen auf, aber dennoch blieben auf den Bürgersteigen breite Streifen Dunkelheit zurück. Das gemischte Licht von Laternen und untergehender Sonne spiegelte sich gleichermaßen in den stillen Wassern des Round Pond und der Serpentine[5]. Menschen, die auf dem Weg zu ihren Dinnereinladungen in Hansoms über die Brücke trabten, betrachteten für einen kurzen Augenblick das bezaubernde Bild. Nach einer Weile ging der Mond auf, und seine blanke Münze, wenn auch hin und wieder von Wolkenfetzen verdunkelt, leuchtete voller Heiterkeit herab, voller Feierlichkeit, oder vielleicht auch voller Indifferenz. Sich langsam drehend, wie der Schein eines Suchlichts, zogen die Tage, die Wochen, die Jahre, nacheinander über den Himmel.

 

 

Colonel Abel Pargiter saß nach dem Lunch plaudernd in seinem Club. Da seine Gefährten in den Ledersesseln Männer seines eigenen Schlags waren, ehemalige Soldaten, Staatsbeamte, Männer, die jetzt im Ruhestand waren, ließen sie mit alten Witzen und Geschichten erst ihre Vergangenheit in Indien, Afrika, Ägypten aufleben und wandten sich dann, wie selbstverständlich, der Gegenwart zu. Es ging um eine Ernennung, eine mögliche Ernennung.

Plötzlich beugte der jüngste und schneidigste der drei sich vor. Gestern war er zum Lunch gewesen mit … Hier sank die Stimme des Sprechers zu einem Flüstern ab. Die anderen neigten sich näher; mit einer knappen Handbewegung wedelte Colonel Abel den Bediensteten fort, der die Kaffeetassen abräumte. Die drei kahl werdenden, angegrauten Köpfe steckten mehrere Minuten dicht beisammen. Dann ließ Colonel Abel sich in seinen Sessel zurückfallen. Das eigentümliche Glitzern, das in aller Augen getreten war, als Major Elkin zu seiner Geschichte ansetzte, war völlig aus Colonel Pargiters Gesicht verschwunden. Er starrte geradeaus vor sich hin, die hellblauen Augen ein wenig zusammengekniffen, als sei das Gleißen des Ostens noch in ihnen; und in den Winkeln ein wenig gekräuselt, als seien sie noch voller Staub. Ihm war ein Gedanke gekommen, der alles, was die anderen sagten, für ihn uninteressant machte; ja sogar abstoßend. Er erhob sich und sah durch das Fenster auf die Piccadilly hinunter. Die Zigarre ausgestreckt in der Hand, blickte er auf Omnibusse, Hansoms, Victorias, Lieferwagen und Landauer hinab. Er hatte mit alledem nichts mehr zu schaffen, schien seine Haltung zu sagen; er mischte nicht mehr mit. Etwas Düsteres legte sich über sein gutaussehendes rötliches Gesicht, während er schauend