: Virginia Woolf
: Klaus Reichert
: Jacobs Zimmer Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104904931
: Virginia Woolf, Gesammelte Werke
: 1
: CHF 9.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Der stille junge Mann«, heißt es von Jacob Flanders, und: »wie besonders er aussieht«. Er hat das College in Cambridge verlassen und lebt in London. Flüchtige Freundschaften und Liebeserlebnisse lassen ihn spüren, wie einsam er mit seinem vielleicht nicht mehr zeitgemäßen Weltbild ist. Mehr und mehr zieht er sich in sein Zimmer und seinen eigenen geistig-seelischen Bereich zurück, liest bis spät in die Nacht Autoren der griechischen und römischen Antike und der elisabethanischen Zeit. Auf einer Reise nach Italien und Griechenland will er die klassischen Kunstdenkmäler als den Ausdruck von Einheit und Größe erleben, der seinem Ideal entspricht. Ist es das, was er erlebt? Nach seiner Rückkehr findet er den Kontakt zur Gegenwart nicht mehr. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen; Jacobs Spur verliert sich in Flandern. In sein Zimmer dringen jetzt durch das offene Fenster die Laute des modernen Lebens. Mit ihrem dritten Roman hat Virginia Woolf den entscheidenden Schritt in ihrer künstlerischen Entwicklung getan. Flüchtige Sinneswahrnehmungen, Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen, wie mit dem Blick des Malers eingefangene Impressionen, das sind die Mittel, die sie nun bewußt einsetzt. Mit vierzig Jahren, schrieb Virginia Woolf in ihr Tagebuch, habe sie herausgefunden, »wie ich es anfangen muß, etwas mit eigener Stimme zu sagen.«

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

I


»So blieb eigentlich«, schrieb Betty Flanders und grub die Hacken noch tiefer in den Sand, »nichts anderes als wieder abzureisen.«

Langsam entquoll der Spitze ihrer Goldfeder blaßblaue Tinte und löste den Punkt auf; denn hier stockte ihre Feder; ihre Augen standen still, und langsam füllten sie Tränen. Die ganze Bucht zitterte; der Leuchtturm wackelte; und sie hatte die Illusion, daß der Mast von Mr Connors kleiner Jacht sich verbog wie eine Wachskerze in der Sonne. Sie blinzelte rasch. Unfälle waren etwas Schreckliches. Sie blinzelte noch einmal. Der Mast war gerade; die Wellen waren regelmäßig; der Leuchtturm war lotrecht; aber der Klecks hatte sich ausgebreitet.

»… nichts anderes als wieder abzureisen«, las sie.

»Also wenn Jacob nicht spielen will« (der Schatten von Archer, ihrem ältesten Sohn, fiel über das Briefpapier und sah auf dem Sand blau aus, und sie fröstelte – es war schon der dritte September), »wenn Jacob nicht spielen will« – was für ein scheußlicher Klecks! Es muß schon spät sein.

»Woist dieser kleine Quälgeist?« sagte sie. »Ich sehe ihn nicht. Lauf und such ihn. Sag ihm, er soll sofort kommen.« » … doch gottlob«, schrieb sie hastig und bekümmerte sich nicht um den Punkt, »scheint alles zur Zufriedenheit gelöst, wenn wir auch wie Heringe ins Faß gepfercht sind und den Kinderwagen hinausstellen müssen, was die Wirtin natürlich nicht dulden will …«

Solcherart waren Betty Flanders' Briefe an Kapitän Barfoot – etliche Seiten lang, tränenfleckig. Scarborough ist siebenhundert Meilen weit von Cornwall: Kapitän Barfoot ist in Scarborough: Seabrook ist tot. Tränen ließen alle Dahlien in ihrem Garten zu roten Wogen verfließen und blitzten ihr das Gewächshaus in die Augen und bestirnten die Küche mit blinkenden Messern und brachten Mrs Jarvis, die Pfarrersfrau, beim Gottesdienst, während die Choralmelodie erklang und Mrs Flanders sich tief über die Köpfe ihrer kleinen Jungen neigte, auf den Gedanken, daß die Ehe eine Festung ist und Witwen einsam auf weiter Flur umherirren, Steine aufklauben, einzelne goldene Strohhalme auflesen, allein, unbeschützt, arme Geschöpfe. Mrs Flanders war nun seit zwei Jahren Witwe.

 

»Ja-cob! Ja-cob!« schrie Archer.

 

»Scarborough«, schrieb Mrs Flanders auf den Umschlag und setzte schwungvoll einen kräftigen Strich darunter; es war ihre Heimatstadt; der Mittelpunkt des Universums. Aber eine Briefmarke? Sie stöberte in ihrer Handtasche; hielt sie hoch mit der Öffnung nach unten; kramte dann in ihrem Schoß, alles so energisch, daß Charles Steele unter seinem Panamahut den Pinsel in der Schwebe hielt.

Wie die Fühler eines gereizten Insekts zitterte er regelrecht. Da bewegte sich diese Frau doch – machte gar Anstalten, aufzustehen – der Teufel hole sie! Er versetzte der Leinwand einen hastigen violettschwarzen Tupfer. Denn den brauchte die Landschaft. Sie war zu blaß – Grautöne flossen in Lavendeltöne, und darüber ein einzelner Stern oder eine weiße Möwe akkurat in der Schwebe – zu blaß wie gewöhnlich. Die Kritiker würden sagen, sie sei zu blaß, denn er war ein unbekannter Mann, der wenig beachtet ausstellte, bei den Kindern seiner Wirtinnen beliebt war, ein Kreuz an der Uhrkette trug und sich hoch erfreut zeigte, wenn seine Wirtinnen seine Bilder mochten – was sie oft taten.

 

»Ja-cob! Ja-cob!« schrie Archer.

 

Verärgert über den Lärm, doch kinderlieb, stocherte Steele nervös in den kleinen dunklen Spiralen auf seiner Palette.

»Deinen Bruder hab ich gesehn – deinen Bruder hab ich gesehn«, sagte er kopfnickend, als Archer, seinen Spaten hinter sich herziehend, an ihm vorbeizockelte und den bebrillten alten Herrn mißmutig anblickte.

»Da drüben – beim Felsen«, nuschelte Steele mit dem Pinsel zwischen den Zähnen, drückte ungebranntes Siena aus und blickte unverwandt auf Betty Flanders' Rücken.

»Ja-cob! Ja-cob!« schrie Archer und zockelte wieder weiter.

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