: Jurek Becker
: Bronsteins Kinder Roman
: Suhrkamp
: 9783518731307
: 1
: CHF 11.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 302
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Damals 1973, lebte Hans zusammen mit seinem Vater. Mit Martha, der Frau, die er liebte, fuhr er häufig zu dem Häuschen des Vaters vor der Stadt. Eines Tages fand Hans das Haus besetzt. Dies war der Beginn einer Geschichte, die sein Leben veränderte: In dem Haus wurde ein Mann gefangengehalten.



<p>Jurek Becker wurde am 30. September 1937 in Lodz/Polen geboren und starb am 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein. Von 1939 bis 1945 wuchs Becker im Ghetto in Lodz auf und wurde später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. 1945 siedelte er in den Ostteil Berlins über, wo er von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität studierte. 1960 wurde Becker aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen und ging an die Filmhochschule Babelsberg. Becker ist Autor zahlreicher Drehbücher. 1969 wurde sein erster Roman veröffentlicht -<em>Jakob der Lügner</em> wurde weltbekannt. Jurek Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold und dem Bundesverdienstkreuz.</p&g ;

Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb. Das Ereignis fand am vierten August 73 statt, oder sagen wir ruhig das Unglück, an einem Sonnabend. Ich habe es kommen sehen.

Ich wohne seitdem bei Hugo und Rahel Lepschitz, dazu bei ihrer Tochter Martha. Sie wissen nichts vom Hergang der Geschichte, die in meines Vaters Tod ihren Höhepunkt fand, für sie ist er einfach an Herzinfarkt gestorben. Hugo Lepschitz hat damals gesagt, der Sohn seines besten Freundes sei ihm nicht weniger lieb als ein eigener, und sie haben mich zu sich genommen. Dabei hatten die beiden sich kaum zehnmal im Leben gesehen, und wenn sie auch nur das geringste füreinander übrig hatten, dann versteckten sie es wie einen Schatz.

Man hätte alles damals mit mir machen können, mich zu sich nehmen, mich fortschicken, mich ins Bett stecken, nur fragen durfte man mich nichts. Als ich einigermaßen wieder zu mir kam, war meine und meines Vaters Wohnung aufgelöst, ich lag auf dem Sofa der Familie Lepschitz, wurde von Martha gestreichelt, und der Fernseher lief.

Seit Tagen hört das Wetter nicht auf, ein Mai ist das! Ich spüre, wie das Leben zu mir zurückkehrt; es kribbelt in meinem Kopf, die grauen Zellen räkeln sich, nicht lange, und ich werde wieder denken können. Das Trauerjahr geht zu Ende. Wenn man mich vor den goldenen Thron riefe und nach dem einen großen Wunsch fragte, brauchte ich nicht lange zu überlegen: Gebt mir das steinerne Herz. Was die anderen mit ihren Gefühlen leisten, würde ich sagen, das möchte ich mit dem Verstand erledigen. In Zukunft kann mir sterben wer will, noch so ein Jahr wird mir nicht mehr passieren.

Hinter meinem Umzug kann nur Martha gesteckt haben. Als sie mich von Vaters Beerdigung mit den paar kleinen Juden nach Hause brachte und in der leeren Stube sitzen sah, wird ihr vor Mitleid das Herz zersprungen sein. Wir liebten uns damals entsetzlich. Bestimmt hatte sie die besten Absichten, auch wenn heute alles verloren ist. Wenn sie heute ins Zimmer kommt, fange ich sofort zu überlegen an, ob es draußen nicht etwas zu tun gäbe. Seit ich hier wohne, ist unsere Herzlichkeit verfallen, und man muß sehr gute Augen haben, um noch einen Rest davon zu erkennen.

Ich habe nicht den Mut, mich nach einer neuen Freundin umzusehen. Ich stelle mir vor, was geschehen würde, wenn ich eines Tages mit einer Jutta oder Gertrud hier auftauchte. Wie Rahel Lepschitz ihr Gesicht zwischen die Hände nehmen und wie Hugo Lepschitz den Kopf über so viel Undankbarkeit