: Yves Petry
: In Paradisum
: Luftschacht Verlag
: 9783903081024
: 1
: CHF 10.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 555
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Marino, dieser unscheinbare, farblose Marino, hat einen Mann getötet; und er hat ihn nicht nur getötet, er hat ihn zuerst entmannt, ihm dann die Kehle durchgeschnitten und Teile seines Körpers im Gefrierschrank aufbewahrt, um davon zu essen. Marino hat das allerdings auf Wunsch seines Opfers getan. Jetzt sitzt er im Gefängnis und schreibt alles auf. Eigentlich ist es nicht er, der schreibt, es ist nicht seine Stimme, die hier spricht, er notiert nur, was er diktiert bekommt ... Diese Geschichte ist tatsächlich geschehen. Dennoch ist Yves Petrys 'In Paradisum' keine Rekonstruktion der realen Ereignisse, sondern eine Reaktion darauf. Aus einer Anekdote der Skandalpresse erschafft Petry einen tiefgründigen Roman, macht mit literarischen Mitteln das Bizarre plausibel und das Schreckliche erträglich. Er verleiht dem Opfer postum eine Stimme und stellt diese düstere folie à deux in ein überraschend romantisches Licht.

Yves Petry, geboren 1967, studierte Mathematik und Philosophie. 1999 erschien sein Debüt 'Het jaar van de man' ('Das Jahr des Mannes'), ein Roman über einen jungen Antihelden, der einen äußerst lethargischen Lebensstil pflegt. In dem Jahr als 'De achterblijver' ('Der Nachzügler') publiziert wurde, verlieh man Petry den BNG Literaturpreis für sein Gesamtwerk. 'Liefde bij wijze van spreken' ('Liebe, sozusagen') erschien 2015 unter großem Beifall der niederländischen Presse. 'In Paradisum' ('De maagd Marino'), Petrys fünfter Roman, gewann 2011 den prestigeträchtigen Libris Literaturpreis und ist seine erste Übersetzung ins Deutsche.

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Die Tür geht auf, und für Marino ist es keine Überraschung, dass der Mann, der dort erscheint, nur eine Unterhose anhat. Das haben sie so verabredet. Überraschender ist der Gesichtsausdruck des Mannes. Die halb geschlossenen Augen deuten auf ein gewisses Maß von Sedierung. Seine Schritte sind ein wenig unsicher. Doch die straff angespannten Kiefermuskeln drücken eine große Entschlossenheit aus. Das Kinn ist leicht in die Höhe gereckt, die Lippen ragen herausfordernd hervor. Er sieht aus wie eine Kreuzung aus Zombie und Märtyrer, wie ein vor Kampfeslust flimmernder Schlafwandler. Höchstwahrscheinlich ist dies ein Effekt der Drogen, die er genommen hat.

Die Wohnzimmervorhänge sind sorgfältig geschlossen. Kein Schimmer ist mehr von der Außenwelt zu sehen. In einer Ecke verbreitet eine Stehlampe mit einem grobbaumwollenen Schirm ein nicht allzu helles Licht. Es könnte beinahe gemütlich sein, wenn das Zimmer nicht ansonsten leer wäre, von einem Esstisch mit zwei Stühlen und einem Sofa abgesehen.

Auf einem der Stühle sitzt Marino. Wovor er sich vorher schon gefürchtet hat, überfällt ihn plötzlich als un