1. ISABELL
Mit mir stimmt was nicht. Ich sehe Gespenster. Genauer gesagt nur eins. Noch genauer gesagt nur meins, mein Double. Seit Wochen geht das schon, ich sehe in den Spiegel und sehe – nicht mich. Sondern sie. Mit verschränkten Armen steht sie vor mir und grinst mir ins Gesicht. Manchmal zwinkert sie mir zu, als wolle sie mich aufmuntern, manchmal rollt sie die Augen, als sei sie von mir genervt. Wende ich mich von ihr ab, kriecht sie in meine Ohren, flüstert peinliche Sprüche:Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.Oder:Macht kaputt, was euch kaputt macht.Solche Sachen. Am schlimmsten ist, wenn sie leibhaftig neben mir auftaucht mit ihrem Zottellook, ihren schwarz umrahmten Augen und meinen Alltag durcheinanderbringt. Billie heißt sie. Ein peinlicher Name für eine Frau Mitte dreißig. Meine Meinung.
Billie trat in mein Leben in Form eines Molotowcocktails, ja, wirklich, sie katapultierte sich quasi aus einem Brandsatz in meine Seele. Psychologen würden sagen: Billie ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Und zwar eine hartnäckige.
Es passierte am 31. März, einem Tag, der sich wie November anfühlte, so grau und trüb. Was nicht nur am Wetter lag. Ich musste mich von der Wohnung in Kranichstein verabschieden, in der ich fast drei Jahrzehnte gelebt hatte, ging ein letztes Mal durch alle Räume. – Neu-Kranichstein, nach Ansicht mancher Darmstädter ihr »schlechtester« Stadtteil im Norden: jede Menge Hochhäuser, meist brutale 13 bis 19 Stockwerke hoch und satellitenstadtüblich gruppiert. Eine typische Bausünde der 60er Jahre, seit den 90ern mit viel Grün, vielTeich und viel Infrastuktur aufgehübscht und aufgewertet.Sogar einen Wochenmarkt gibt es jetzt. Mag sein, dass es keiner glaubt, aber inmitten der »Eiger Nordwand«, wie die Wohnblöcke rings um die Bartningstraße im Volksmund heißen, habe ich mich als Kind und auch später durchaus heimisch gefühlt.
Kurz nach meinem fünften Geburtstag waren wir eingezogen, Vater, Mutter, meine großen Brüder und ich. Damals war die Familie noch komplett, nicht glücklich, aber komplett. Mit Vaters Tod, er starb an einer Leberzirrhose, ging es bergab. Mutter arbeitete hart, bis sie an Parkinson erkrankte, was sie schließlich in den Rollstuhl zwang. Meine Brüder zogen aus, ich gab meinen Job als medizinisch-technische Assistentin auf und blieb bei Mutter wohnen. Ihre Rente reichte für die Miete und ein passables Auskommen für uns beide. Urlaub war nicht drin, Kino auch nicht, doch Mutter wäre zu solchen Ausflügen ohnehin nicht in der Lage gewesen.
Mitleid mit mir? – Ist unangebracht. Ich bin nicht der Typ für ein geregeltes Berufsleben. Schlecht gelaunte Chefs und ehrgeizige Kollegen machen mich unglücklich. Softwaresysteme auch. Besonders unglücklich machen mich Männer. Sie übersehen mich einfach. Schon in der Schule haben sich die Jungs mir nur genähert, um an meine attraktiveren Freundinnen heranzukommen. Den Gedanken ans Heiraten gab ich folgerichtig mit achtzehn auf. Nein wirklich, ich habe in all den Jahren, die ich mit Mutter allein zusammenwohnte, nicht viel vermisst. Mein Leben hätte gut und gerne so weitergehen können. Doch Parkinson verläuft in unvorhersehbaren Schüben: Zittern und Muskelsteifigkeit, Störung der Reflexe, Inkontinenz, Ohnmachtsanfälle … Zuletzt ging es ganz rasch. Mit Mutters Tod entfiel ihre Rente. Beim Jobcenter nötigte man mich, mir Arbeit zu suchen. Und aus der Vierzimmerwohnung auszuziehen.
Ich gebe zu, ich bin sentimental. Der Abschied von den Räumen, die so lange mein Zuhause gewesen waren, tat schrecklich weh. Alles deprim