: Robert Musil
: Mario Leis, Volker Ladenthin
: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Textausgabe mit Kommentar und Materialien [Reclam XL - Text und Kontext] - Musil, Robert - 16157
: Reclam Verlag
: 9783159611846
: Reclam XL ? Text und Kontext
: 1
: CHF 4.80
:
: Deutsch
: German
: 274
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Österreich-Ungarn Anfang des 20. Jahrhunderts: Ein Schüler wird von seinen Klassenkameraden gequält und erniedrigt. Als Törleß endlich eingreift, erpressen sie ihn ... Eine intensive Studie der Pubertät. Klassenlektüre und Textarbeit einfach gemacht: Die Reihe »Reclam XL - Text und Kontext« erfüllt alle Anforderungen an Schullektüre und Bedürfnisse des Deutschunterrichts: * Schwierige Wörter werden am Fuß jeder Seite erklärt, ausführlichere Wort- und Sacherläuterungen stehen im Anhang. * Ein Materialienteil mit Text- und Bilddokumenten erleichtert die Einordnung und Deutung des Werkes im Unterricht. * Natürlich passen auch weiterhin alle Lektüreschlüssel, Erläuterungsbände und Interpretationen dazu! E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Robert Musil (6.11.1880 St. Ruprecht bei Klagenfurt - 15.4.1942 Genf) gehört zu den wesentlichen Protagonisten der literarischen Moderne. Sein verschlungener Lebensweg, der neben Militärdienst auch Studien in Maschinenbau sowie in Philosophie und Psychologie umfasst, prägt seine Literatur. Mittelpunkt seiner Werke ist das Ringen des modernen Individuums um Gewissheit und Bestimmtheit. In »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« stellt Musil der empirischen Weltdeutung eine psychologische gegenüber. Dieses Konzept wird im »Mann ohne Eigenschaften« weiter zugespitzt: Hier skizziert Musil das Bild des »Möglichkeitsmenschen«. Dieser reagiert auf ein Überangebot an zeitgleich vorhandenen Möglichkeiten überfordert, sodass er alles werden »kann«, doch niemals »wird« und somit stets unvollendet bleibt. Dieses Romanvorhaben bleibt gleichermaßen unabgeschlossen. Volker Ladenthin ist Professor (em.) für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn lehrt. Er war mehrere Jahre als Studienrat für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie an einem Gymnasium und an einem Kolleg tätig. Mario Leis ist promovierter Literaturwissenschaftler und Lehrer für die Fächer Deutsch und Philosophie an einem Berufskolleg. Zudem ist er als Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Universität Bonn tätig. Mit falschem E-Book verknüpft, überarbeitet

[7]Einekleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt.

Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von demAbdampfe in den Boden gebrannte Strich.

Hinter dem niederen, ölgestrichenen Stationsgebäude führte eine breite, ausgefahrene Straße zur Bahnhofsrampe herauf. Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen kenntlich, die traurig mit verdursteten, von Staub und Ruß erdrosselten Blättern zu beiden Seiten standen.

Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen. Von Zeit zu Zeit, in gleichenIntervallen, trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf nach den Signalen der Wächterhäuschen, die immer noch nicht das Nahen des Eilzuges anzeigen wollten, der an der Grenze große Verspätung erlitten hatte; mit ein und derselben Bewegung des Armes zog er sodann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf und verschwand wieder; so wie die Figuren kommen und gehen, die aus alten Turmuhren treten, wenn die Stunde voll ist.

Auf dem breiten, festgestampften Streifen[8]zwischen Schienenstrang und Gebäude promenierte eine heitere Gesellschaft junger Leute, links und rechts eines älteren Ehepaares schreitend, das den Mittelpunkt der etwas lauten Unterhaltung bildete. Aber auch die Fröhlichkeit dieser Gruppe war keine rechte; der Lärm des lustigen Lachens schien schon auf wenige Schritte zu verstummen, gleichsam an einem zähen, unsichtbaren Widerstande zu Boden zu sinken.

FrauHofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren, verbarg hinter ihrem dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen. Und es fiel ihr schwer, ihr einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten lassen zu müssen, ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu wachen.

Denn die kleine Stadt lagweitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland.

Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden musste, ihren Jungen in so ferner, unwirtlicher Fremde zu wissen, war, dass sich in dieser Stadt ein berühmtesKonvikt befand, welches man schon seit dem vorigen Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung errichtet worden war, da draußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren.

Denn hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen des Institutes die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, und in allen diesen Fällen sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesellschaft galt[9]es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein.

Vor vier Jahren hatte dies das Elternpaar Törleß bewogen, dem ehrgeizigen Drängen seines Knaben nachzugeben und seine Aufnahme in das Institut zu erwirken.

Dieser Entschluss hatte später viele Tränen gekostet. Denn fast seit dem Augenblicke, da sich das Tor des Institutes unwiderruflich hinter ihm geschlossen hatte, litt der kleine Törleß an fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh. Weder die Unterrichtsstunden, noch die Spiele auf den großen üppigen Wiesen des Parkes, noch die anderen Zerstreuungen, die das Konvikt seinen Zöglingen bot, vermochten ihn zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles nur wie durch einen Schleier und hatte selbst untertags häufig Mühe, ein hartnäckiges Schluchzen hinabzuwürgen; des Abends schlief er aber stets unter Tränen ein.

Er schrieb Briefe nach Hause, beinahe täglich, und er lebte nur in diesen Briefen; alles andere, was er tat, schien ihm nur ein schattenhaftes, bedeutungsloses Geschehen zu sein, gleichgültige Stationen wie die Stundenziffern eines Uhrblattes. Wenn er aber schrieb, fühlte er etwas Auszeichnendes, Exklusives in sich; wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben hob sich etwas in ihm aus dem Meere grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und gleichgültig umdrängte. Und wenn er untertags, bei den Spielen oder im Unterrichte, daran dachte, dass er abends seinen Brief schreiben werde, so war ihm, als trüge er an unsichtbarer Kette einen goldenen Schlüssel verborgen, mit dem er, wenn es niemand sieht, das Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde.

[10]Das Merkwürdige daran war, dass diese jähe, verzehrende Hinneigung zu seinen Eltern für ihn selbst etwas Neues un