: Tamy Fabienne Tiede
: Club der letzten Wünsche Roman
: Piper Verlag
: 9783492974868
: 1
: CHF 6.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich im Kindergarten Würmer gegessen und anderen Kindern meine Schippe über den Schädel gezogen, und jetzt lag ich in einem Bett in einem Krankenhaus mit einem Tumor in meiner Lunge.« Jesslyn wird sterben. Aber nicht, bevor sie nicht unter freiem Himmel geschlafen, das Meer gesehen, sich verewigt hat. Und nicht, bevor sie nicht die ganz, ganz große Liebe getroffen hat. Gemeinsam mit ihren Freunden erfüllt sich Jesslyn ihre letzten großen Wünsche.

Tamy Fabienne Tiede, geboren 1997, lebt in Frankfurt (Oder) und schlägt sich mit Büchern sowie Kaffee die Nächte um die Ohren. Ihr Zimmer ist eine Bibliothek und sie selbst ein zertifizierter Bücherwurm. Sie ist die Gewinnerin des zweiten Piper-Awards #erzaehlesuns auf der Schreibplattform Wattpad. »Club der letzten Wünsche« ist ihr erster Roman, mit dem sie auf Wattpad Tausende von Fans begeistert.

Kapitel 2

Immer noch der 22. August

Für die Röntgenaufnahmen musste ich meinen Oberkörper komplett entkleiden und meinen nackten Busen dann gegen eine Metallplatte drücken. Die Schwester, die bei den Aufnahmen assistierte, war zwar nett, erkundigte sich für meinen Geschmack aber etwas zu häufig danach, ob alles in Ordnung sei.

Als ich da also stand und meine immer noch nackten Brüste gegen die immer noch kalte Metallplatte drückte, fragte sie gefühlt zum hundertsten Mal in lieblichem Ton: »Ist es sehr kalt, Liebes?«

Zu gerne hätte ich in diesem Moment einen fiesen Spruch abgelassen, so wie ich es immer tat. Doch sie war die erste Person an diesem Tag, bei der ich mir nicht zehn verschiedene Weisen überlegte, wie ich sie mit ihrer dämlichen Krankenhausuniform erdrosseln könnte. Also antwortete ich nur: »Die Finger von Doktor Diebel waren eindeutig kälter – und von denen habe ich auch keine harten Nippel bekommen.« Sie lachte, auch wenn ich mir sicher war, dass sie es nur aus Höflichkeit tat.

Nachdem alle Aufnahmen gemacht waren, durfte ich mich wieder anziehen. Ich begab mich auf Anweisung der netten Schwester in einen Nebenraum, in dem meine Mutter bereits saß und an einem Plastikbecher mit dampfendem Kaffee nippte. Uns wurde gesagt, dass der Arzt uns holen würde, sobald die Bilder entwickelt worden seien. Also warteten wir. Wieder einmal.

Die Aussicht darauf, nochmals stundenlang auf einem dieser schrecklichen Krankenhausstühle zu sitzen, ließ meinen ohnehin schon geschundenen Hintern unangenehm kribbeln, und so begann ich, ungeduldig im Zimmer herumzutigern. Doch schnell wurde auch das langweilig, weshalb ich mich dazu entschied, eine der Toiletten, die sich draußen auf dem Gang befanden, aufzusuchen, um mich frisch zu machen. Während ich mir die Hände wusch, betrachtete ich mich in dem kleinen Spiegel, der über dem Spülbecken angebracht war.

Ich stellte fest, dass ich schrecklich ausgemergelt aussah. Meine glatten braunen Haare, die ich in einem zerzausten Pferdeschwanz trug, wirkten glanzlos und dünn, mein Gesicht hager, und die blauen Augen hatten schon vor langer Zeit ihr Strahlen verloren. Das Einzige, was in meinem Gesicht noch funkelte, waren die Piercings, die das Deckenlicht reflektierten. Angewidert von mir selbst, verließ ich die Toilette wieder und begab mich zurück in das Wartezimmer, wo ich mich ans Fenster stellte, sodass ich auf die Stadt hinter der Scheibe blicken konnte – die Stadt, in der ich mich so unsagbar fremd fühlte.

Wir waren hierhergezogen, weil meine Mom es nicht mehr mit meinem Dad ausgehalten hatte. Wenn ich sie nun so ansah, war ich mir mittlerweile unsicher, ob es nicht vielleicht andersherum gewesen sein konnte. Jedenfalls hatten wir zuvor in einem großen Haus auf dem Land gewohnt, bis ich ungefähr zwölf war. Noch Jahre später tauchte dieses Haus in meinen Träumen auf, und ich sehnte mich eine sehr lange Zeit danach.

Ich hatte mir gewünscht, dass alles wieder wie früher wurde. In unserem alten Zuhause schien alles in Ordnung gewesen zu sein: das mit Mom und Dad, und das mit mir. Dort waren wir glücklicher und unbeschwerter. Na ja, so wirklich konnte ich es me