1. Kapitel
June blieb am Morgen etwas länger unter der Dusche stehen als sonst, weil sie an das Einstellungsgespräch dachte, das ihr heute noch bevorstand. Sie führte die einzige Arztpraxis in der Kleinstadt Grace Valley in Kalifornien. Diesen Job hatte sie von ihrem Vater gewissermaßen geerbt, Elmer „Doc“ Hudson. Elmer war inzwischen zweiundsiebzig und tat so, als wäre er im Ruhestand. In Wirklichkeit war das nur eine charmante Beschreibung dafür, dass er die Praxis zwar nicht mehr selbst führte, sich dennoch permanent in die Arbeit seiner Tochter einmischte.
Die Notwendigkeit für einen zweiten Arzt wurde jeden Tag deutlicher. June hatte bereits mit mehreren Kollegen gesprochen, doch bisher hatte sich kein geeigneter Partner für die Praxis gefunden. Heute kam also ein weiterer Anwärter vorbei, Dr. John Stone. Er war vierzig Jahre alt und hatte sein Studium an der Stanford University und der Medizinischen Fakultät der University of California absolviert. Seinen Facharzt in Frauenheilkunde und Geburtshilfe hatte er an der Johns Hopkins University in Baltimore gemacht, danach war er acht Jahre an einer renommierten Frauenklinik tätig gewesen und hatte noch ein Studium der Familienmedizin drangehängt. Er war genau der Richtige für Grace Valley. Aber war Grace Valley auch das Richtige für ihn?
June versuchte, ihn sich vorzustellen. Sicher so ein Yuppie aus Sausalito. Bestimmt war er mal im Rahmen einer Weinprobe nach Grace Valley gekommen und glaubte nun, dass man hier als Arzt ein lockeres Leben hätte. Die herrliche Landschaft mit Bergen, Tälern und dem Meer lockte schließlich jedes Jahr mehr Städter an, die sich dauerhaft niederließen. Vielleicht hatte er aber auch schon mal einen Urlaub in der Region verbracht, spekulierte June, in einer kleinen Frühstückspension an der Küste. Nein. Eher besaß ein wohlhabender Freund von ihm aus San Francisco in der Nähe ein luxuriöses Feriendomizil – jemand, der es sich leisten konnte, nicht mehr zu arbeiten. Die Golfplätze oder Segelreviere konnten John Stone jedenfalls nicht angelockt haben – so etwas gab es hier nämlich nicht. Hier war eher Wandern angesagt oder Camping, und auch das nur für echte Abenteurer. Was also wollte er hier? Wahrscheinlich würde er ihr von seiner Sehnsucht nach Ruhe und Frieden erzählen, nach Sicherheit und schöner Umgebung, denn all das gab es in Grace Valley im Überfluss. Apfelkraut. Traditionell gefertigte Quilts, echte Familienerbstücke. Unverschlossene Haustüren, schmucke Häuschen mit umlaufender Veranda und Kuchen, die auf der Fensterbank abkühlten. Idyllisches Landleben. Anstand. Einfachheit.
Wahrscheinlich sollen seine Kinder nicht in der schmutzigen Großstadt aufwachsen, sondern weit weg von Drogen und Verbrechen. Dass das Militär regelmäßig mit Hubschraubern das kalifornische Küstengebirge und die Trinity Alps nach Marihuana-Plantagen absuchte, würde ihm mit Sicherheit nicht gefallen. Durch die häufigen Luftrazzien in den Wäldern stellten Wanderungen inzwischen ein gefährliches Abenteuer dar, da man nie wusste, wer gerade Drogen anbaute und welche Wege und Orte von den illegalen Betreibern kontrolliert und gegen unerwünschte Eindringlinge vehement verteidigt wurden. Cannabis war das meistangebaute zum Verkauf bestimmte Agrarprodukt Kaliforniens. So weit die traurigen Tatsachen – und das alles fand nur einen Steinwurf entfernt von Grace Valley statt.
Was Ruhe und Frieden betraf – davon wünschte June sich selbst auch ein bisschen. Genau deshalb sah sie sich ja nach einem Praxiskollegen um.
Sie drehte das Wasser ab und trocknete sich die Haare.
June hatte sich bewusst dafür entschieden, in der Kleinstadt zu praktizieren, in der sie aufgewa