Huli Jing
von Christian Schwarz
nach einem Exposé von Susanne Wilhelm
Kapitel 1
London, Gegenwart – Dorian Hunter
Ich schwitzte Blut und Wasser. Schon der kleinste Fehler konnte mein Ende bedeuten. Mit der ganzen Konzentration, zu der ich noch fähig war, setzte ich den nächsten Schritt. Er führte mich auf ein Zeichen, das einem viereckigen Gitter mit zwei Quersprossen glich. Es schwankte bedenklich, als ich meinen Körper nachzog. Mit ausgebreiteten Armen und hintereinander stehenden Füßen versuchte ich die Balance zu halten. Und schrie entsetzt auf, als mein rechtes Bein vom Untergrund abglitt. Im allerletzten Moment konnte ich mich durch eine rüde Rückwärtsbewegung abfangen und in einen einigermaßen sicheren Stand bringen. Unendlich erleichtert blies ich die Luft aus den Backen. Mit dem rechten Auge schielte ich an meinem Körper vorbei in den tiefen Schlund unter mir, in dem ein Flammeninferno tobte. So weit mein Auge reichte. In den Flammen lauerte ein geiferndes Monstrum, das sich mit mir bewegte. Immer befand es sich genau unter mir. Es ähnelte einem Fuchs, besaß allerdings neun Schwänze. Mit tückischen Augen schaute es zu mir hoch, beobachtete jeden meiner Schritte. Und riss gierig den Rachen auf, wenn es glaubte, dass ich jetzt den einen falschen Schritt machte, der mich in die Tiefe befördern würde. Dieses Mal sprang es sogar hoch. Aber ich durfte mich nicht verrückt machen lassen.
Weiter.
Wenn ich überleben wollte, musste ich auch das letzte Drittel der wackeligen Hängebrücke noch schaffen. Sie bestand aus miteinander verknüpften chinesischen Schriftzeichen und bot mir keinerlei Absicherung. Die Zeichen führten gleichermaßen in den Tod und ans rettende Ufer. Es lag ganz allein an mir. An meiner Geschicklichkeit. An meinem Durchhaltevermögen. An meiner Fantasie und meinem Instinkt, den jeweils richtigen Pfad zu wählen. Denn nicht jede Verstrebung eines Zeichens erwies sich als gangbar.
Die schmalen Stege ließen mir kaum Platz, die Füße zu setzen. Jeder weitere Schritt bedeutete Todesangst. Und gleichzeitig Hoffnung. Ich sah den seltsamen Fuchs unter mir und vor mir das rettende Ufer. Nicht mehr weit. Am Ende der Brücke tauchte eine junge, sehr hübsche Chinesin auf. Sie trug einen goldenen, mit Silberfäden durchwirktenHanfu, die traditionelle chinesische bis zu den Knöcheln reichende Tunika und hochgesteckte braune Haare. Die grellrot geschminkten Lippen wirkten wie ein Leuchtfeuer.
Die Frau trat direkt an den Abgrund. Dann ging sie in die Knie und reckte mir ihre Arme entgegen. Dabei rief sie etwas, das ich nicht verstand, aber es spornte mich an. Schließlich krabbelte ich über den letzten Teil eines Zeichens, das wie ein Kerzenleuchter aussah. Ich streckte den rechten Arm aus und