Flucht aus dem centro terrae
von Ralf Schuder
1. Kapitel
Hospitale di Capuano, Catania, Sizilien
Es war Viertel nach zehn. Hinter der Milchglasscheibe des Fensters war es stockfinster. Massimo Franco stand allein in der Halle und betrachtete den gedeckten Tisch: Kaviar, Baguette, Champagner; zwei Gläser, eine schlanke Kerze und eine langstielige, lilafarbene Orchidee.
Gar nicht mal so übel, dachte er. Er hatte, gemessen an seinem Einkommen, viel investiert. Doch Lydia war es ihm wert: eine bildhübsche junge Frau, deren feingeschnittenes Gesicht von langen, hellblonden Haaren umrahmt wurde. Massimos Hände begannen vor Erregung leicht zu zittern, als er an ihre sinnlichen Lippen und an ihre verführerischen Augen dachte. Sie war seit fünfzehn Minuten überfällig – aber das beunruhigte ihn nicht ... er hielt es für das gute Recht einer so schönen Frau, zu spät zu einer Verabredung zu erscheinen.
Es war ein seltsamer Ort für ein Rendezvous: Der Tisch stand in einer großen, nach Desinfektionsmitteln riechenden Totenhalle. In die Wände waren vierzig Kühlfächer eingelassen, in jedem davon lag ein Leichnam. Inmitten der Halle befand sich ein Obduktionstisch, durch dessen Abguss noch vor wenigen Stunden das kalte, träge Blut eines Verstorbenen gesickert war.
Massimo Franco war ein spindeldürrer Mittvierziger, der unpassenderweise einen Bauch mit sich herumtrug, der weit über die Gürtellinie hing. Eine krankhafte Schwäche des Bindegewebes, wie ihm die Ärzte diagnostiziert hatten. Überhaupt war er ein schlaffer, kraftloser Mensch, der jede sportliche Betätigung mied, der jeder Anstrengung aus dem Weg ging. Der Job als Nachtwächter war ihm auf den Leib geschrieben. Die Schicht begann um zehn Uhr Abends und endete um sieben Uhr morgens. Die Zeit dazwischen verbrachte er in seinem Bürokabuff vor einem Fernseher.
Die Pathologie lag einhundert Meter vom Hauptgebäude des Hospitale di Capuano entfernt, und Massimo wurde nur zwei, drei Mal pro Nacht gestört, wenn ein Leichnam herüber gebracht wurde.
Nach Dienstschluss ging er regelmäßig in ein nahes Bistro, in dem ein recht ordentliches Frühstück angeboten wurde. Dort hatte er auch Lydia kennen gelernt. Sie war Feuer und Flamme gewesen, als sie erfuhr, dass er in der Pathologie beschäftigt war. Sie machte ihm schöne Augen und gab ihm zu verstehen, dass sie zu mehr als einer Unterhaltung bereit wäre ... wenn er sie in die Leichenhalle einladen würde. Massimo war Junggeselle, und er wäre ein Narr gewesen, wenn er nicht z