1. Kapitel
Gegenwart
Er war. Er ist. Er wird sein.
Manchmal war er zu mehreren, ein anderes Mal noch nicht einmal er selbst.
Sein Name war Phillip, Phillip Hayward. Er war das, was die Leute einen Hermaphroditen nennen. Sie spielten damit auf eine bestimme Eigenschaft seines Körpers an. Er war ein Zwitter, besaß männliche und zugleich weibliche sekundäre ebenso wie primäre Geschlechtsteile.
Er war einbesonderer Zwitter.
Und im Moment war er nur ein Beobachter.
»Ich habe nachgedacht«, sagte die Frau, die am anderen Ende des Tisches saß. Die dünnen krallenartigen Hände umfassten eine Tasse mit pechschwarzem Kaffee. Mehr gönnte sie sich nicht zum Frühstück. Ein Rollkragen bedeckte den faltigen Hals. Die Augen der Frau blitzten fast wütend, die Mundwinkel waren nach unten gezogen. »Ich habe nachgedacht«, wiederholte sie, »aber ich habe das Gefühl, dass Sie mir noch nicht einmal zuhören, wenn ich Ihnen etwasWichtiges zu sagen habe!«
Lucinda Kranichs seltsamer Gast schaute noch nicht einmal auf. Der/Die junge Mann/Frau schaute in eine imaginäre Ferne. Tee, den er sich zuvor eingeflößt hatte, rann seine Mundwinkel hinab. Im nächsten Moment hatte er/sie sich wieder in seiner/ihrer Gewalt. Sein/Ihr Blick wurde von einer Sekunde zur anderen glasklar. Mit einer Serviette wischte er/sie sich über den Mund.
Der Rückfall in sein früheres Selbst hatte nur Sekunden gedauert. Jetzt war er wieder nur der Beobachter.
Asmodi war tot. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Und sogar Phillip schien nicht unbeeinflusst von dem Ding, das unten im Keller einmal mehr erstarkt war. Als der Hermaphrodit plötzlich vor ihrer Tür erschienen war, hatte er auf Lucinda wie ein normaler junger Mann gewirkt. Doch seitdem die Kreatur sich ein Körperteil des Deutschen einverleibt hatte, schien auch Phillip plötzlich wieder in alte Verhaltensweisen zurückzufallen. Zumindest für wenige Augenblicke.
»Entschuldigen Sie«, antwortete der Hermaphrodit und lächelte sie an. In diesem Augenblick erschien er wie ein gefallener Engel, sein Körper wirkte trotz der Länge grazil und zerbrechlich. Die blasse Haut erinnerte an ein Geisterwesen. Fast glaubte Lucinda, durch ihn hindurchblicken zu können, aber das war nur eine Täuschung. Keine Täuschung waren die golden schimmernden Augen, die vielleicht das Ungewöhnlichste an diesem Wesen waren – trotz aller anderen ungewöhnlichen Charakteristika.
Lucinda