: Christopher Isherwood
: Mr Norris steigt um
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455814156
: 1
: CHF 9.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Berlin am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Der junge Engländer William Bradshaw verbringt seine Tage damit, bourgeoisen Damen Englischstunden zu geben, nachts jedoch umgibt er sich mit Gestalten der Halbwelt. Besonderen Eindruck macht die Begegnung mit Arthur Norris auf ihn, einem Lebemann und Kommunisten - im Deutschland jener Tage eine zunehmend riskante Haltung. Und dann steht der Reichstag in Flammen ... Mit großer Präzision zeichnet Christopher Isherwood das faszinierende Porträt eines Menschen, dem zuletzt alles genommen wird. Und wie schon in Leb wohl, Berlin fängt er auch hier auf einmalige Weise die Stimmung im Deutschland der Vorkriegszeit ein - aus der Perspektive eines scheinbar unbeteiligten Beobachters.

Christopher Isherwood wurde 1904 in der Grafschaft Cheshire als Sohn eines englischen Offiziers geboren. Nach erfolglosen Studien der Geschichte und der Medizin in Cambridge und London ging er 1929 nach Berlin. Von 1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1986 lebte er im kalifornischen Santa Monica. Mit Werken wie Leb wohl, Berlin, A Single Man, Mr Norris steigt um und Praterveilchen zählt Christopher Isherwood zu den berühmtesten Schriftstellern seiner Generation.

Erstes Kapitel


Als Erstes fiel mir auf, dass der Fremde ungewöhnlich helle blaue Augen hatte. Sie sahen mich mehrere Sekunden lang an, starr und sichtlich verängstigt. Auf arglose Weise vorwitzig, erinnerten sie mich vage an einen Zwischenfall, den ich nicht recht einordnen konnte; etwas, das vor langer Zeit geschehen war und mit dem Unterricht in der neunten Klasse zu tun hatte. Es waren die Augen eines Schülers, den man beim Verstoß gegen eine Regel erwischt hatte. Dabei hatte ich ihn offenbar bloß aus seinen Gedanken aufgeschreckt: Vielleicht dachte er, ich könne sie lesen. Jedenfalls schien er weder gehört noch bemerkt zu haben, wie ich von der anderen Seite des Abteils auf ihn zugetreten war, denn beim Klang meiner Stimme zuckte er zusammen, und zwar so heftig, dass seine plötzliche Bewegung mich wie ein Rückstoß traf. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück.

Es war genau so, als wären wir auf der Straße zusammengestoßen. Wir waren beide verwirrt und beflissen, uns zu entschuldigen. Um ihn zu beruhigen, wiederholte ich lächelnd meine Frage:

»Dürfte ich Sie um Feuer bitten, Sir?«

Aber auch jetzt antwortete er nicht sofort. Er schien in Gedanken eilig etwas zu überschlagen, während seine Finger nervös und hektisch an seiner Weste herumzupften. Man hätte meinen können, er wolle sie aufknöpfen, um einen Revolver zu ziehen oder auch nur um nachzuschauen, ob ich vielleicht sein Portemonnaie entwendet hatte. Dann verschwand die Bestürzung aus seinem Blick, wie eine kleine Wolke, und hinterließ einen strahlendblauen Himmel. Endlich verstand er, was ich von ihm wollte:

»Ja, ja. Äh – selbstverständlich. Aber sicher.«

Während er redete, tippte er sich leicht mit den Fingerspitzen an die linke Schläfe, hüstelte und lächelte dann plötzlich. Sein Lächeln war äußerst charmant. Es entblößte die hässlichsten Zähne, die ich je gesehen hatte. Sie sahen aus wie abgebrochene Felskanten.

»Selbstverständlich«, wiederholte er. »Mit Vergnügen.«

Vorsichtig fischte er mit Daumen und Zeigefinger in der Westentasche seines edlen grauen Flanellanzugs und zog ein goldenes Benzinfeuerzeug hervor. Seine Hände waren weiß, feingliedrig und sorgfältig manikürt.

Ich bot ihm eine von meinen Zigaretten an.

»Äh – vielen Dank. Danke vielmals.«

»Nach Ihnen, Sir.«

»Nein, nein. Bitte.«

Die winzige Flamme des Feuerzeugs flackerte zwischen uns, so flüchtig wie die Atmosphäre, die unsere übertriebene Höflichkeit erzeugt hatte. Der leiseste Atemhauch hätte die eine ausgelöscht, eine einzige unbedachte Geste oder ein Wort die andere zerstört. Als beide Zigaretten brannten, setzten wir uns zurück auf unsere Plätze. Der Fremde war noch immer misstrauisch. Er überlegte wohl, ob er zu weit gegangen und in die Fänge eines Langweilers oder eines Ganoven geraten war. Sein ängstliches Wesen drängte auf Rückzug. Ich für meinen Teil hatte nichts zu lesen dabei und sah eine Reise in völliger Schweigsamkeit vor mir, sieben oder acht Stunden lang. Ich war entschlossen zu reden.

»Wissen Sie, wann wir die Grenze erreichen?«

Im Rückblick scheint mir diese Frage nicht besonders ungewöhnlich gewesen zu sein. Es stimmt, dass mir an der Antwort nichts lag; ich wollte lediglich eine F