: Sybille Krämer
: Figuration, Anschauung, Erkenntnis Grundlinien einer Diagrammatologie
: Suhrkamp
: 9783518744673
: 1
: CHF 22.00
:
: Medienwissenschaft
: German
: 361
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In unserer dreidimensionalen Welt sind wir umgeben von bebilderten und beschrifteten Flächen. Welche Rolle spielt die »Kulturtechnik der Verflachung« in unseren Wissenspraktiken? Worin besteht die kognitive Kreativität von Tabellen, Texten, Diagrammen und Karten, die für Erkenntnis und Wissenschaft unverzichtbar sind? Sybille Krämer untersucht, wie synoptische Anordnungen zu Denkzeugen werden. Sie analysiert die Erkenntniskraft der Linie als Wurzel eines diagrammatischen Denkens, dessen Spuren sich schon in den Erkenntnistheorien von Platon, Descartes, Kant und Wittgenstein sichern lassen. So entstehen die Konturen einer Diagrammatologie, in deren Rahmen sich die Orientierungsleistung und Imaginationskraft sichtbarer, räumlicher Schemata für das Erkennen erforschen lassen.

Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin im Ruhestand und seit 2019 Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen:<em>Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität</em>(2008) und<em>Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie</em> (stw 2176).

111. »Spielfelder« des Denkens und Erkennens?
Eine Hinführung


Wir fangen einen durch die Luft fliegenden Ball. Keine Frage: Hirn, Auge und Hand sind hierbei vonnöten; Sensorik, Motorik und Kognition arbeiten dabei in Feinabstimmung. Das Fangen von Bällen ist eine körperliche Kompetenz: Nicht nur, weil unser Körper dabei in Aktion ist, sondern auch, weil der »Zugriff« auf den Ball sich innerhalb der Körperwelt vollzieht: Der Ball ist ein berührbares Ding, und unsere leiblichen Hände, mit denen wir ihn ergreifen, sind zwar keine Dinge für uns, aber als Teile unseres Körpers »zuhanden«. Bälle fangend bewegen wir uns im Materialitätskontinuum der Welt, innerhalb von dem, was raum-zeitlich situiert, also wahrnehmbar und berührbar ist.

Stellen wir uns vor, wir könntengeistige Kompetenzen erwerben und befördern, indem das gelungene Zugreifen in der Welt der Körperdinge fruchtbar gemacht wird für das Verhalten in der Welt der Wissensgegenstände: Theoretische Entitäten sind das, was sie sind, weil sienicht raum-zeitlich situiert,nicht sinnlich wahrnehmbar,nicht zu ergreifen sind. Und doch: Der Kunstgriff, von dem der menschliche Geist – jedenfalls ist das unsere Vermutung – zehrt und beflügelt wird, besteht (auch) darin, abstrakten Entitäten körperliche Surrogate zu verschaffen und sie damit hineinzuholen in die raum-zeitlich situierte, materielle Welt, so dass wir sie in dieser ihrer verkörperten Form eben nicht nur präsentieren, speichern und zirkulieren, sondern vor allem auch explorieren und erforschen können. So werden reale, aber als körperliche Anhaltspunkte fungierende Gegenstände zu Passierstellen, um eine Beziehung aufzunehmen zu abwesenden und vor allem: zu »rein« geistigen Objekten. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass die Bezugnahme auf Immaterielles in Gestalt materialiter präsenter Surrogate ein – sei es auch noch so entferntes – Band stiftet zwischen Wissenschaft und Religion.[1] Doch wir interessieren uns nur für die kognitive, die epistemische und wissenschaftliche Dimension.

Die Aktivität des Rechnens ist für diese kognitive Strategie si12gnifikant. Ob mit den Fingern unserer Hand, mit Perlen des Abakus, mit Rechensteinen auf dem Rechenbrett oder mit schriftlichen Zeichen auf dem Papier hantierend: Komplexe Zahlenprobleme werden lösbar durch regelhafte Manipulationen mit taktil und visuell zugänglichen Konfigurationen, die ihrerseits mit für uns unzugänglichen, nicht beobachtbaren Objekten und deren Relationen »irgendwie« verbunden sind. Das Rechnen zeigt auf elementare Weise: Geistige Tätigkeiten können so eingerichtet bzw. formatiert werden, dass sie in Gestalt handgreiflicher Aktivitäten, situiert im Materialitätskontinuum der beobachtbaren Welt, vollzogen werden können. Es gibt ein Handwerk des Geistes.

Die Annahme einer Exteriorität des menschlichen Geistes ist nicht überraschend. Dass der Geistnicht mit dem Hirn zu identifizieren ist und alleine im Kopf residiert, sondern in Gestalt symbolischer Artefakte und deren Manipulation den biologischen Körper überschreitet, wird in den letzten Jahrzehnten verstärkt sondiert von Autoren, die ein nicht-kognitivistisches Konzept vom menschlichen Denken unter den Schlagwortenembodied,extended oderembedded mind erarbeiten.[2] Doch lange zuvor – und von den Vertretern des »embodied undembedded mind nahezu vollständig ignoriert – haben bereits Philosophen zu bedenken