: Hanna Krall
: Dem Herrgott zuvorkommen
: Verlag Neue Kritik
: 9783801505660
: 1
: CHF 10.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 179
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In einer meisterhaften literarischen Montage konfrontiert Hanna Krall den stellvertretenden Kommandanten des Warschauer Ghettoaufstandes von 1943, Marek Edelman, mit dem heutigen Herzchirurgen Marek Edelman. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, die Todgeweihten des Ghettos erscheinen neben herzkranken Patienten des Lodzer Krankenhauses, die Kampfgefährten Edelmans neben seinen Medizinerkollegen. Eher zögernd und unwillig berichtet Edelman mit der ihm eigenen Distanz und Ironie über das Ghetto. Als einer von Vierhunderttausend hatte er als Zwanzigjähriger den Abgrund menschlicher Erniedrigung erlebt und das Elend unzähliger Namenloser mit angesehen. Mit vier Gleichaltrigen hatte er im April 1943 den Aufstand im Warschauer Ghetto ausgerufen. Es wäre tröstlich, den Kampf der Aufständischen zu zelebrieren, aber Edelman weigert sich, den Aufstand zu einem Mythos werden zu lassen, der die Demütigung und Vernichtung der Juden mit einem strahlenden Glanz der Glorie verdecken könnte. Kompromisslos bleibt er den Menschen verbunden, deren Weg zum »Umschlagplatz« er verfolgt hat und deren Tod er nicht verhindern konnte. Hanna Krall vermag der bodenlosen Trauer (literarisch) standzuhalten, die in einem Land, das zum Friedhof des europäischen Judentums wurde, in besonderer Weise präsent ist. In vielen Passagen geht dieses Buch weit über den dokumentarischen Wert eines einmaligen persönlichen Berichtes hinaus und wird zum Kommentar der »condition humaine«.

Hanna Krall wurde 1935 in Warschau geboren, wo sie bis heute lebt. In Polen sorgte sie mit ihren Veröffentlichungen für Aufsehen, das auch durch ein jahrelanges Publikationsverbot in den achtziger Jahren nicht unterbunden werden konnte. Sie hat zahlreiche nationale und internationale Preise erhalten; ihre Werke wurden in siebzehn Sprachen übersetzt.

»Du hattest an jenem Tag einen flauschigen roten Wollpullover an. ›Einen herrlichen Pullover‹, sagtest du noch, aus Angorawolle. Ein sehr reicher Jude hatte ihn hinterlassen…‹ Zwei Lederriemen kreuzten sich mitten auf der Brust, und daran trugst du eine Handlampe. ›Lass dir erzählen, wie ich aussah!‹ sagtest du zu mir, als ich nach dem 19. April fragte…«

»Das habe ich gesagt?Es war kühl. Im April sind die Abende kühl, vor allem wenn man nicht ausreichend ernährt ist. Darum trug ich den Pullover. Es stimmt, ich hatte ihn in den Sachen eines Juden gefunden. Eines Tages hatte man sie aus dem Keller geholt, und ich nahm mir den Angorapullover. Es war gute Qualität. Der Mann besaß einen Haufen Geld, vor dem Krieg hatte er dem Nationalen Verteidigungsfonds ein Flugzeug oder einen Panzer gespendet.

Ich weiß, dass du solche Geschichten magst. Sicher habe ich es deswegen erwähnt.«

»O nein. Du hast es erwähnt, weil du etwas zeigen wolltest. Nüchternheit und Gelassenheit. Darum ging es.«

»Ich rede einfach so, wie wir alle damals über diese Dinge gesprochen haben.«

»Also der Pullover, über Kreuz die beiden Riemen…«

»Setze noch zwei Revolver hinzu. Die gehörten zum Schickan diesen beiden Riemen. Wir glaubten damals, jemand brauche nur zwei Revolver, dann habe er alles.«

»Der 19. April: Schüsse weckten dich, du zogst dich an…«

»Nein, noch nicht. Die Schüsse hatten mich geweckt, aber es war kalt. Außerdem war die Schießerei weit weg, es gab noch keinen Grund aufzustehen.

Um zwölf habe ich mich angezogen.

Ein Bursche war bei uns, er hatte von der arischen Seite Waffen gebracht. Er sollte gleich wieder zurück, aber es war zu spät. Als die Schießerei anfing, sagte er, seine kleine Tochter sei im Kloster in Zamość, er wisse, dass er das hier nicht überleben würde, ich aber würde durchkommen und solle mich nach dem Krieg um diese Tochter kümmern. Ich sagte: ›Schon gut, red jetzt keinen Quatsch.‹«

»Und?«

»Was ›und‹?«

»Ist es dir gelungen, die Tochter zu finden?«

»Ja, das ist gelungen.«

»Hör zu, wir haben ausgemacht, dass du erzählen wirst, nicht wahr? Es ist immer noch der 19. April. Es wird geschossen. Du hast dich angezogen. Der junge Mann von der arischen. Seite spricht von seiner Tochter. Was war dann?«

»Wir gingen los, weil wir uns in der Nachbarschaft umsehen wollten. Als wir einen Hof überquerten, waren dort mehrere Deutsche. Eigentlich hätten wir sie töten sollen, aber darin waren wir noch nicht geübt. Außerdem hatten wir ein bisschen Angst. So haben wir sie also nicht getötet.

Drei Stunden später verstummten die Schüsse.

Es wurde still.

Unser Gelände war das sogenannte Ghetto der Bürstenfabrik: das Gebiet zwischen den Straßen Franciszkańska, Świętojerska und Bonifraterska.

Das Fabriktor war vermint.

Als am nächsten Tag die Deutschen anrückten, lösten wir den Kontakt aus, an die hundert wird es erwischt haben. Das musst du übrigens irgendwo nachprüfen, ich weiß es nicht mehr genau. Überhaupt erinnere ich mich an immer weniger. Von jedem meiner Patienten könnte ich dir zehnmal soviel erzählen.

Als die Mine hochgegangen war, bildeten sie eine Schützenkette, um uns anzugreifen. Das gefiel uns. Wir waren vierzig, sie hundert, eine ganze Kolonne in Gefechtsordnung, und sie hielten sich geduckt. Man sah, sie nahmen uns ernst.<