I. Luftschlösser
Ein Schäferssohn träumt von der großen Karriere
„Erst will ich mich bestreben, Mensch zu sein […],
der Wahrheit ein Zeuge, dem Mitmenschen ein Bruder.“
„Lass mich ganz das werden, was ich soll.“
Eigentlich ist er ein waschechter Franzose gewesen, der deutsche Gesellenvater Kolping. In seiner Geburtsurkunde heißt es, der Gemeindeschäfer „Pierre Külping“ sei beim Standesbeamten erschienen, um die Geburt eines Sohnes „Adolphe“ anzuzeigen. Tatsächlich gehörte der kleine Ort Kerpen, zwischen Köln und Aachen links des Rheins gelegen, zum französischen Kaiserreich, als Adolph Kolping dort am 8. Dezember 1813 zur Welt kam. Der Eroberer Napoleon, wenige Wochen vorher in der Leipziger „Völkerschlacht“ geschlagen, war zwar schon auf der Flucht, aber die Wunden der Besatzungsjahre wollten nicht so schnell heilen.
Krieg und Brand und Tod hatten eine schreckliche Spur durch das Rheinland gezogen. Der an chronischem Geldmangel leidende Napoleon war es gewohnt gewesen, seine Armee vom Feindesland ernähren zu lassen. Die „Franzmänner“ hatten ihre Kavallerie in den Städten und Dörfern einquartiert, herrisch Futter für die Pferde, Brot und Fleisch und Wein für die Reiter verlangend. Auf den Straßen zogen Scharen von Obdachlosen ins Elend.
Es war eine verwirrende Umbruchzeit, in der sich das kurze, aber dichte Leben des Adolph Kolping abspielte. Napoleon hatte den Völkern ihre Freiheit genommen, aber die Rechtsgrundsätze der Französischen Revolution eingepflanzt und die bürgerliche Gesellschaft gegen die alte Ordnung durchgesetzt. Es war freilich ein militaristisch eingefärbter Nationalismus, ein System von Polizeistaaten. Eine kleine privilegierte Schicht sicherte sich immer mehr Besitz und politische Mitspracherechte, während die Masse des Volkes nach wie vor herzlich wenig zu sagen hatte.
Das Bürgertum begann sich zur politisch bestimmenden Größe zu entwickeln. Die nichts hatten, blieben draußen vor der Tür. „Freiheit“ hieß der zentrale Gedanke dieser Jahrzehnte und „Verfassung“ das Zauberwort, mit dem man den Schutz der individuellen Bürgerrechte durchzusetzen hoffte.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es dem vom gebildeten Bürgertum getragenen Liberalismus tatsächlich, parlamentarische Volksvertretungen und Parteien zu etablieren. Aber noch 1847 schrieb der württembergische Liberale Julius Holder einem Gesinnungsgenossen resigniert, die kleinen Leute hätten vom vorpreschenden Bürgertum nicht viel zu erwarten: „Der ,Pöbel‘ erhielt harte Strafen, das Bürgertum neue Freiheiten.“
Wunderwelt der Bücher und Träume
Adolphs Vater, der Schäfer und Kleinlandwirt Peter Kolping, war ein Analphabet, aber ein selbstbewusster und couragierter Mann: Als einer von Adolphs Schulfreunden, der Sohn eines großmächtigen Domänenrats, in seinem Haus geringschätzig über den Pfarrer zu reden wagte, setzte er das arrogante Knäblein einfach vor die Tür.
Vater Kolping hatte überhaupt keinen Grund, sich minderwertig zu fühlen. Heute gibt ein Schäfer bloß noch ein wehmütig belächeltes Kameramotiv ab: heile Welt von anno dazumal. Anfang des 19. Jahrhunderts war das anders. Als Lieferant von Milch, Käse und Wolle war das Schaf ein hoch geschätztes Haustier, anspruchslos war es auch, mit kargen Grasböden im Tiefland ebenso zufrieden wie mit Bergalmen, und den Mann, der die zahllosen Schafe einer Dorfgemeinschaft auf der Weide zusammenhalten, vor dem Wolf schützen und ihre Krankheiten heilen konnte, behandelten die Bauern mit sachkundigem Respekt.
Nie sei er glücklicher gewesen, wird Adolph Kolping später berichten, „als wenn ich bei meinem alten, steinalten Großvater saß, die Mutter neben ihm mit dem Spinnrad, der Vater, der den Tag über tüchtig schaffen musste, hinter dem Ofen saß, sein Pfeifchen rauchte, meine Geschwister um mich herum spielten und der alte Großvater Stückchen und Märchen erzählte“.
Ob die dick aufgetragene Idylle nicht täuscht? Es wird den Eltern in kargen Zeiten nicht immer leicht gefallen sein, mit ein paar eigenen Schafen, einem Gemüsegärtlein und ein bisschen Ackerland fünf Kinder satt zu bekommen. Und wenn auch der kleine „Dölfes“ als vierter in dieser Reihe verhältnismäßig behütet aufgewachsen sein mag, während sich die älteren Geschwister schon in der Küche und im Stall abrackerten – irgendwann wird ihn der Vater auch zum Hüten abkommandiert haben, und so angenehm war es nicht, die Herde bei Wind und Wetter über die Äcker und Wiesen zu treiben, immer wachsam, immer auf dem Sprung.
Aber dass er nie mehr im Leben so eine Herzlichkeit un