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Am nächsten Morgen fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass sie Urlaub hatte. Fast wäre sie aufgestanden, stattdessen drehte sie sich um und versuchte weiterzuschlafen. Das misslang zwar, aber im Dämmerzustand konnte sie entspannt ihren Gedanken nachhängen. Mit dem Vorteil, dass sie nie so richtig wusste, ob das gerade ein Traum war oder Realität – oder sich irgendwo dazwischen abspielte. Dass sie gestern Abend nach dem Essen Thierry alleine nach Hause geschickt hatte, das wusste sie ganz sicher. Auch konnte sie sich an seinen enttäuschten Gesichtsausdruck erinnern. Zur Krönung des Tages hatte er sich was anderes erhofft. Aber so war das Leben. Dass Apollinaire in Jacques’ Bistro mit seiner Shayana vorbeigekommen war und sie zwar herzlich, aber mit dem ihm eigenen Respekt gegrüßt hatte, war Fakt. Aber dass er in ihrer Erinnerung zwei gleichfarbige Strümpfe angehabt hatte, verdammte sie ins Reich der Phantasie. Das war ihm noch nie passiert. Seit wann trug er eigentlich Hawaiihemden? Hatte sie das geträumt? Nein, das war ihm im Urlaub zuzutrauen.
Isabelle zog sich das Kissen über den Kopf. Sie hätte so gerne weitergeschlafen. Draußen fuhr ein kreischendes Moped vorbei. Das gehörte zu dieser Tageszeit verboten. Wie spät war es eigentlich? Na, egal. Sie träumte von einer nackten Tänzerin, die fortwährend Pirouetten drehte, beobachtet von einem älteren Herrn mit wenig Haaren, grauem Bart und einer Brille. Das musste Matisse sein. Warum schaute er so finster? Gefiel ihm nicht, was er sah? Thierry fand die junge Rosalie auf den Fotos ganz wunderbar und überaus erotisch, er hätte sie am liebsten mit ins Bett genommen. Sozusagen als Ersatz. Aber dafür war er einige Jahrzehnte zu spät auf die Welt gekommen.
Als sie von ihremportable mit einer Schiffssirene aus dem nun doch eingetretenen Schlaf gerissen wurde, beschloss sie in Sekundenschnelle zweierlei: Erstens würde sie den Klingelton ändern, dieser war unerträglich und konnte von ihr nur in einem Moment geistiger Umnachtung installiert worden sein. Zweitens würde sie zukünftig ihr Mobiltelefon während dervacances annuelles zumindest in der Nacht abschalten.
Sie fischte nach der nervtötenden Schiffssirene und brachte sie zum Schweigen. Sie sah sich gerade außerstande, ein Gespräch entgegenzunehmen. Erst dann blickte sie auf das Display. Zu spät. Mit Rouven Mardrinac hätte sie nun doch gerne gesprochen. Seit Tagen wartete sie auf seinen Anruf. Sie war zu stolz, um sich selbst zu melden. Verpasst. Nicht zu ändern.
Sie wühlte sich aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete die Läden.
Schon wieder ein strahlend schöner Tag. Fast könnte man dessen überdrüssig werden, aber nicht wirklich.
Sie machte einige Dutzend Kniebeugen, dann Liegestützen und Sit-ups. Diese Übungen waren ihr so sehr zur Gewohnheit geworden, dass sie dabei fast weiterschlafen konnte. Erst die kalte Dusche machte sie wirklich wach. Sie kochte sich einen extrastarken Kaffee und schob ein Croissant von gestern ins Rohr. Anschließend nahm sie ihren Tabletcomputer und schaute nach den aktuellen Lokalnachrichten. Gleich auf der ersten Seite strahlte sie das Gesicht von Thierry Blès an. Das wäre zum Auftakt des Tages nicht nötig gewesen. Etwas weiter hinten hätte völlig gereicht. Aber sie war so fair, dass sie sich für ihn freute. Der Bericht über die Eröffnung des Museums hatte es ganz nach vorne geschafft. Fragolin auf der ersten Seite? Das hatte es schon länger nicht mehr gegeben.
Eine knappe Stunde später schlenderte Isabelle an Clodines LadenAux saveurs de Provence vorbei. Die Seifen waren in der Auslage ganz in den Hintergrund getreten. Überall drehte die Tänzerin ihre Pirouetten, auf T-Shirts und Postkarten. Oder Henri Matisse schaute einen an. Auch gab es Poster mit seinen berühmtesten Gemälden – darunter auch der tanzende Reigen. Das musste man Clodine lassen, sie hatte sich rasch auf die neue Situation eingestellt.
»Bonjour, Clodine, wie laufen die Geschäfte?«
Sie begrüßten sich mit Küsschen.
»Die Kunstdrucke laufen gut, und die T-Shirts sind schon alle weg«, antwortete sie. »Ich habe gerade neue bestellt. Sonst hakt es noch etwas. Später soll ein Reisebus kommen, da wird sich zeigen, wie viel Pfeffer unsere Rosalie unter ihrem Hintern hat.«
»Sie ist tot«, stellte Isabelle lakonisch fest.
»Na, ich hoffe nicht. Dein Thierry hat sie doch gerade wieder wach geküsst.«
»Er ist nichtmein Thierry.«
»Wirklich? Ach so, da gibt es noch Rouven. Ganz schön schwierig, dein Privatleben.«
Isabelle zog missbilligend eine Augenbraue nach oben.
»Ist gar nicht schwierig, ganz im Gegenteil.«
Clodine lächelte. »Ich an deiner Stelle würde beide nehmen.«
»Du vielleicht, ich nicht.«
»Was hast du heute vor?«, wechselte Clodine das Thema. »Keine Leichen, kein Zeugenschutzprogramm, keine Serienmörder. Da musst du dir was einfallen lassen.«
»Kein Problem. Ich fahr runter ans Meer und geh zum Schwimmen.«
»Wenn der Reisebus nicht wäre, würde ich zusperren und mitkommen.«
»Das nächste Mal. Viel Erfolg mit Matisse und Rosalie.«
Auf dem Weg zu ihrem Lieblingsstrand, der versteckt hinter Pinien lag und nur über steile Stufen zu