Vorwort
Dass die Vorstellungskraft erlahmt vor dem Ausmaß der Menschenvernichtung durch die Nazis, diese Erfahrung haben die Späteren immer aufs Neue zu machen. Können wir uns also den Holocaust nicht vorstellen? Die historisch-wissenschaftlichen Untersuchungen der Judenvernichtung, nachprüfbare Fakten, Zahlen, Daten, Namen und Orte liefernd, machen das Geschehen rational fassbar, aber nicht vorstellbar. Anders die Berichte von Opfern und Überlebenden. Was am Schicksal von Millionen nicht nachvollziehbar ist, offenbart sich am Schicksal Einzelner, an denen es sich vollzog. Doch musste für die Opfer im Räderwerk der Vernichtung manche für die Vorstellbarkeit zentrale Frage unbeantwortbar bleiben: Warum? Wie konnte es dahin kommen? Was trieb die Täter an? Welche Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisationen und Strukturen? Die Antworten können nur die Täter selbst geben. Sie werden sich hüten?
Am 29. April 2015 fand im Museum der Streitkräfte in Moskau, im Beisein hoher russischer und deutscher Persönlichkeiten, ein feierlicher Eröffnungsakt statt. Anlass war die Onlinepublikation von bisher nicht zugänglichen Akten des deutschen Reiches aus russischen Archiven.Russisch-deutsches Projekt zur Digitalisierung deutscher Dokumente in den Archiven der Russischen Föderation lautet der vollständige Name der Website. Eingeladen hatten russische historische Institute, gemeinsam mit der Max Weber Stiftung und dem Deutschen Historischen Institut Moskau. Der Bestand dieser sogenannten Trophäendokumente, achtundzwanzigtausend Akten, gegliedert in fünfzig Findbüchern, umfasst rund zweieinhalb Millionen Blatt, die bis 2018 schrittweise digitalisiert werden sollen. Unter den Tausenden von bereits digitalisierten Dokumenten findet sich ein Dossier von acht Akten der Gestapo – gegen zweitausend Blatt – zu einer einzigen Person: Olga Benario. Ein schon mit Blick auf den Umfang vergleichsloses Dossier. Der von der Gestapo sogenannte ›Vorgang Benario‹ ist die vielleicht umfassendste Sammlung von Dokumenten zu einem einzelnen Opfer des Holocaust. Zugleich bilden diese Dokumente – unvermeidliche Dialektik – eine umfassende Selbstdarstellung der Täter und der Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisationen und Strukturen, die sie leiten. Indem sie den ›Vorgang Benario‹ beinahe Tag für Tag aktenmäßig verhandeln, tun die Täter, was sie nicht wollen können: Sie geben Auskunft über sich selbst.
Wie kam gerade dieses Opfer zu solcher Aufmerksamkeit?
Olga Benario
Münchnerin, Jüdin, Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands, in der Sowjetunion militärisch ausgebildet, Agentin der Komintern, Lebenspartnerin des schon in den 1920er Jahren weltweites Aufsehen erregenden brasilianischen Hauptmanns Luiz Carlos Prestes. Im Frühjahr 1936 zusammen mit Prestes nach einem misslungenen Volksaufstand in Rio de Janeiro verhaftet. Im siebten Monat schwanger an Nazideutschland ausgeliefert. Im Gestapo-Gefängnis in Berlin gebiert sie eine Tochter. Es folgen eineinhalb Jahre Haft in Berlin, dann zwölf Monate im KZ Lichtenburg und drei Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Im April 1942 in Bernburg südlich von Berlin vergast. Prestes verbringt fast zehn Jahre in Einzelhaft in Rio. Bis 1941, wenige Monate vor Olga Benarios Tötung, sind die beiden im Briefkontakt. Die Auslieferung der schwangeren Jüdin und Kommunistin an Deutschland und die Geburt ihrer Tochter, aber auch das Schicksal ihres Lebenspartners, führen zu internationalen Kundgebungen und Aufrufen, das zeigen die von der Gestapo aufbewahrten Zeitungsberichte und Protestschreiben an Heydrich, Himmler und sogar an Hitler.
Deutsche, Jüdin, Kommunistin, militärisch ausgebildet, Geliebte, Kominternagentin, prominente Gefangene der Gestapo, Mutter, KZ-Insassin, Vergasungsopfer. Was wissen wir damit über sie?
So erzählen wir ihr Leben.
12. Februa