Prolog
Oktober 1962
Das Ende der Welt schien unmittelbar bevorzustehen. Auf Kubas Zuckerrohrplantagen ragten massenweise Raketen auf, und im Südatlantik bezogen amerikanische sowie sowjetische Schlachtschiffe Angriffspositionen. Amerikas junger Präsident John Fitzgerald Kennedy hatte eine strapaziöse Woche hinter sich.
Der Kreml grollte Tag und Nacht, während sich die Ereignisse überschlugen. Die Luft knisterte vor streitlustigen Verlautbarungen, die Moskau und Washington abwechselnd herausgaben; die Nerven beider Parteien lagen blank und waren bis zum Zerreißen gespannt. Um noch etwas mit Diplomatie zu erreichen, war es längst zu spät, die altbewährten Krisenverhaltensregeln des Kalten Krieges galten nicht mehr.
Es galt keine, wirklich nicht eine einzige – nicht jetzt, nachdem der russische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow dazu übergegangen war, westlichen Gesandten mit »Wir werden euch begraben« zu drohen oder bei der UN mit einem seiner Schuhe auf den Tisch zu klopfen … und schon gar nicht infolge der Entdeckung von Fidel Castros aus Russland eingeführten Interkontinentalraketen, 90 Meilen vor Miami.
Die einstige Festung Camelot, die geschätzte, friedliche Präsidentschaft des attraktiven Jungkönigs und seiner hübschen Gattin Jacqueline bröckelte zusehends. Und die Risse, die sich immer weiter auftaten, führten geradewegs in die Hölle, wie Jack Kennedy ahnte.
Insgesamt besaßen die beiden Hauptstreitmächte mehr als fünfzehntausend Atomsprengköpfe, die sie gegeneinander richteten. An den Grenzen Westeuropas standen neunzig einsatzbereite sowjetische Militärdivisionen. Amerikas Army, Navy und Bombergeschwader befanden sich zum ersten Mal in der Geschichte im Verteidigungsbereitschaftszustand DEFCON 2, also kurz vor einem Krieg, und das schon seit acht Tagen.
Zwei hilflose Riesen, von denen sich keiner traute, Luft zu holen.
Bis jetzt.
An diesem regnerischen Nachmittag im Oktober 1962 wusste Jack Kennedy sehr genau, dass die Zerstörung der Welt durch Kernwaffen nicht mehr nur als Stoff für Albträume herhielt, denn lediglich ein kleiner Schritt fehlte dazu.
Die Bedrohung war näher als Weihnachten.
Im Auge des Sturms stand das umkämpfte Weiße Haus. Jeder, der in der Pennsylvania Avenue 1600 arbeitete, tat sich angesichts des dräuenden Verhängnisses schwer damit, eine weitere Stunde, einen weiteren Tag durchzuhalten. Die Gesichter geliebter Kinder, Haustiere und Ehepartner – viele in bunten Bilderrahmen aus Speiseeisholzstielen – erinnerten sie ununterbrochen daran, was sie jeden Augenblick für immer verlieren mochten.
Die Reaktionszeit der USA auf eine von Kuba abgefeuerte Sowjetrakete betrug nur 35 Minuten. Dadurch wurde wenigen Angestellten des Weißen Hauses und hochrangigen Generälen das Glück zuteil, innerhalb von sieben Minuten in Hubschrauber zu springen, die zum »Rock« fliegen sollten, einem streng geheimen, unterirdischen Bunker, den man einem Berg in Maryland abgetrotzt hatte.
Diejenigen, die zurückblieben, konnten sich lediglich an ihren Fotos festhalten, die Augen schließen und unter ihre Schreibtische kriechen wie die Grundschüler in den jämmerlichen Fernsehwerbespots des Zivilschutzes. Holz gegen die Atombombe – was für ein kranker Witz.
Jack Kennedy zog sich in einen abdunkelten Alkoven im Westflügel zurück und schluckte zwei Kopfschmerztabletten. Die Nebennierenrinden-Insuffizienz setzte ihm zu. Er war nervlich am Ende. Sein Rücken tat furchtbar weh. Leider wartete sein Bruder Bobby in seinem letzten Refugium auf ihn, dem Oval Office, also machte er sich auf den Weg zur Treppe.
Kennedy war gerade nach einer weiteren äußerst hitzigen Besprechung mit seinen Stabschefs aus dem Lagezentrum gekommen. Die hohe Riege des Pentagons, die nie lange fackelte, drängte auf den nuklearen Erstschlag mitten ins Herz Russlands. Kennedy ließ sich jedoch nicht beirren. Er bestand darauf, dass seine Seeblockade Kubas die größte Hoffnung Amerikas sei, Chruschtschows Bluff aufzudecken und den nächsten Weltkrieg zu verhindern.
Während Jack Kennedy hinter den verschlossenen Türen des Oval Office vorm knisternden Feuer im Kamin auf und ab ging, trug er nicht jene Maske, die er für die Öffentlichkeit aufsetzte, sondern verzog sein wahres Gesicht vor Sorge und Schmerz.
»Hast du von dieser Redstick-Sache gehört, Jack?«, fragte Bobby den Älteren.
»Wie sollte ich nicht davon gehört haben? Man spricht dort unten von nichts anderem mehr. Jetzt haben sie endlich etwas, womit sie auf mich einprügeln können, und werden sich nicht davon abbringen lassen, es zu versuchen.«
»Erklär's mir genau, Jack.«
»Berechnungen des Pentagons zufolge werden die sowjetischen Schiffe unsere äußere Verteidigungslinie in 72 Stunden erreichen, doch anhand der Fülle von neuen Informationen, die wir vom britischen Marinegeheimdienst erhalten, könnte Russland, was seine Jagd-U-Boote angeht, einen gefährlichen Vorteil gewonnen haben.«
»Wie das?«
»Sie verfügen über irgendeine neue Unterwasserakustiktechnologie mit dem Kürzel SOFAR: eine Sonarboje fortgeschrittenen Types. Ihr Codename lautet Redstick. Wie es aussieht, kann sie ein U-Boot aus einer Entfernung von tausend Meilen an den Eigenschaften seines Antriebs erkennen. Mein Gott, falls das stimmt, Bobby, bedeutet es, dass unsere Blockade riesige Lücken aufweist. Sie wäre wertlos, wie mir die Militärchefs schon seit Tagen vorbeten.«
Bobby, der die Hände tief in seine Hosentaschen gesteckt hatte, stand mit vor Müdigkeit herabhängenden Schultern am Fenster und schaute hinaus in den aufgeweichten Rosengarten. Er konnte nicht absehen, wie viele schlechte Neuigkeiten sein Bruder noch ertragen würde. Indem er ein Lächeln aufsetzte, drehte er sich zu Jack um. »Die Briten kümmern sich ja schon darum. Alles, was wir momentan unternehmen können, wird auch getan.«
»Haben sie sich mittlerweile gemeldet? Wir warten immerhin schon seit heute Morgen auf ein