Als Ned Willard nach Kingsbridge heimkehrte, wütete ein Schneesturm.
Im Hafen von Combe schiffte er sich auf einem langsamen Frachtkahn ein, der Tuch aus Antwerpen und Wein aus Bordeaux geladen hatte, und fuhr in dessen Kajüte flussaufwärts. Als das Schiff sich endlich Kingsbridge näherte, zog er seinen französischen Umhang straffer um die Schultern, warf sich die Kapuze über, ging an Deck und ließ den Blick schweifen.
Zuerst war er enttäuscht, denn er sah nichts als dichtes Schneegestöber, wo ihn doch ein beinahe schmerzliches Verlangen erfüllte, Kingsbridge wiederzusehen. Deshalb blickte er angestrengt und voller Hoffnung in die wirbelnden Flocken. Nachdem er eine Zeit lang in das blendende Weiß gestarrt hatte, wurde ihm sein Wunsch erfüllt: Der Schneesturm ließ nach, und mit einem Mal erschien ein Fleck blauen Himmels.
Ned blickte über die Wipfel der Bäume am Ufer hinweg und entdeckte den Turm der Kathedrale – vierhundertundfünf Fuß hoch, wie in Kingsbridge jedes Schulkind wusste. Der steinerne Engel, der von der Turmspitze aus über die Stadt wachte, trug an diesem Tag eine Decke aus Schnee über den ausgebreiteten Flügeln; sie ließ die sonst taubengrauen Federspitzen in strahlendem Weiß leuchten. Noch während Ned schaute, traf ein Sonnenstrahl die Engelsstatue, und der Schnee erstrahlte wie ein Heiligenschein. Dann zog der weiße Vorhang sich wieder zu, und der Engel verschwand aus Neds Blick.
Längere Zeit sah er nur die Bäume am Ufer, grau und geisterhaft im Schneegestöber. Doch sein Inneres war jetzt, da er Kingsbridge vor sich wusste, voller Bilder. Bald würde er wieder bei seiner Mutter sein – nach einem Jahr in der Ferne. Wie schmerzlich er sie vermisst hatte, würde er ihr indes verschweigen; als Mann von achtzehn Jahren musste er auf eigenen Beinen stehen.
Am meisten hatte ihm ohnehin Margery gefehlt. Ned hatte sich zum unpassendsten Zeitpunkt in sie verliebt – wenige Wochen vor seiner Abreise nach Calais, dem Hafen an der Nordküste Frankreichs, der gleichwohl zu England gehörte. Ned kannte die ungestüme, eigenwillige Tochter von Sir Reginald Fitzgerald seit ihrer Kindheit. Inzwischen war Margerys jungenhafte Ausgelassenheit ausgesprochen weiblichen Reizen gewichen, und Ned hatte sich dabei ertappt, wie er sie in der Kirche anstarrte, mit großen Augen und trockenem Mund. Doch er hatte gezaudert, mehr zu tun, als sie mit Blicken zu verschlingen, zumal sie drei Jahre jünger war als er.
Margery hingegen kannte keine solchen Hemmungen. Den ersten Kuss gab sie Ned auf dem Friedhof von Kingsbridge, im Schutz des wuchtigen Mausoleums von Prior Philip – jenem Mönch, der vierhundert Jahre zuvor die Kathedrale hatte erbauen lassen. An Margerys leidenschaftlichem Kuss war nichts Kindliches; umso schmerzlicher war es für Ned, als sie sich von ihm löste und lachend davonrannte. Doch schon am nächsten Tag küsste sie ihn erneut. Und am Abend vor seiner Abreise nach Frankreich gestanden sie einander ihre Liebe.
In den ersten Wochen schrieben sie sich leidenschaftliche Botschaften, konnten dabei aber nicht offen in Briefwechsel treten: Beide hatten ihren Eltern nichts von den Gefühlen erzählt, die sie füreinander hegten; es war ihnen zu früh erschienen. Stattdessen vertraute Ned sich seinem älteren Bruder Barney an, der ihr Mittelsmann wurde – bis auch Barney Kingsbridge verließ und nach Sevilla ging. Zwar hatte auch Margery einen älteren Bruder namens Rollo, aber sie vertraute ihm nicht so sehr, wie Ned Barney vertraute. So war der Briefwechsel versiegt.
Für Ned änderte es wenig, von nun an auf Margerys Briefe verzichten zu müssen, zumindest nicht, was seine Gefühle für sie anging. Er wusste, was die Leute über junge Liebe erzählten, und beobachtete sich selbst in der Erwartung, dass seine Liebe zu Margery ersterben würde. Aber das geschah nicht. Deshalb geriet Ned kaum in Versuchung, als ihm nach ein paar Wochen in Calais seine Cousine Thérèse offen zu erkennen gab, dass sie ihn mochte und fast alles zu tun bereit war, was ihm gefiel. Ned staunte über sich selbst, ha