1. Kapitel
Donnerstag, 4. Dezember 1902
Grau und dicht hing der Nebel über dem Meer. Die weißen Schleier verschluckten die prachtvolle Seebrücke fast vollständig. Die Badekarren ruhten nun in ihren Schuppen. Übrig blieb ein verwaister Strand, gesäumt von Muschelschalen und Seetang.
Auf der Promenade vor den Gästehäusern ließen sich bestenfalls ein paar Dienstboten blicken, die irgendetwas zu erledigen hatten. Geduckt und in dunkle Mäntel gehüllt, huschten sie vorbei, ohne einen Blick auf das Meer zu werfen, denn der Seewind war rau und das Rauschen der Wellen klang um diese Jahreszeit bedrohlich.
Johanna seufzte schwer. Der triste Anblick legte sich ihr aufs Gemüt. Wo war nur der Sommer hin? Die Zeit, in der das Meer blau war und die Promenade nur so vor Sommerfrischlern wimmelte. Die Zeit, in der elegante Damen in weißen Kleidern und mit Sonnenschirmen neben ihren Kavalieren spazierten, Kinder auf der Promenade herumtollten und Limonadenverkäufer ihre bunten Wagen zwischen den Flaneuren hindurchschoben.
Sie dachte an den Sommer zurück. Damals war ihr Herz noch leicht gewesen. Sicher, das Thema Heirat war von ihren Eltern schon angesprochen worden, aber sie hatte sich nichts dabei gedacht. Als es noch warm war, hatte sie sich ablenken können.
Im Winter kam sie kaum aus dem Haus. Und wenn, begleitete ihre Mutter sie. Geheime Treffen mit ihrem Liebsten waren ausgeschlossen. Und zu allem Überfluss nahte das Weihnachtsfest.
Eigentlich hätte sie der Gedanke an die festlich geschmückte Tanne und den Duft von Lebkuchen fröhlich stimmen sollen. Als Kind hatte sie die Tage zwischen den Jahren geliebt und war in den Wochen zuvor furchtbar aufgeregt gewesen. Aber zum diesjährigen Weihnachtsfest erwarteten ihre Eltern eine Entscheidung von ihr, und die würde ihr gesamtes Leben verändern.
Sehnsüchtig blickte Johanna zu den Möwen, die sich über der Strandpromenade vom Wind tragen ließen. Ihr könnt fliegen, wohin ihr wollt, dachte sie und wünschte sich, auch Flügel zu besitzen, mit denen sie den Zwängen entfliehen konnte.
»Johanna?« Eine Frauenstimme vertrieb ihre Gedanken. Johanna hatte nicht mitbekommen, dass sich hinter ihr die Tür geöffnet hatte.
Im Türrahmen stand ihre Mutter.
In ihrem cremefarbenen Nachmittagskleid und mit den hochgesteckten rotblonden Haaren war Augusta Baabe trotz ihrer fünfzig Jahre immer noch eine Schönheit. In Augenblicken wie diesen wurde Johanna klar, warum sich ihr Vater Hals über Kopf in ihre Mutter verliebt hatte.
»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Kind?«, fragte Augusta, als sie Johannas düstere Miene bemerkte.
»Natürlich, Mama.«
Sie konnte nicht behaupten, dass es ihr blendend ging, doch ihre Mutter durfte den Grund für ihre Traurigkeit nicht erfahren.
»Warum kommst du nicht ein wenig nach unten?«, schlug Augusta vor. »Emma hat Kuchen gebacken. Ich bin gera