1. Kapitel
London,
Mai 1837
Er ist der Gentleman, auf den Sie ein Auge geworfen haben?“
Mary Alice Cynster fuhr heftig zusammen – so heftig, dass sie das Gleichgewicht verlor. Jedenfalls beinahe. Als sie sich wieder gefangen hatte, wirbelte sie wütend herum und starrte ihren überaus irritierenden und, wie es schien, durch nichts zu entmutigenden Bewunderer finster an. Weshalb Ryder Cavanaugh sich ausgerechnet die Rolle eines lästigen Anbeters in ihrem Leben ausgesucht hatte, war ihr ein Rätsel, doch seit ihrer kurzen Begegnung beim Verlobungsball ihrer Schwester Henrietta vor zwei Tagen klebte er ihr an den Fersen und wurde langsam, aber sicher zu einer Plage.
Im Ballsaal von Felsham House, in dem sie einander gegenüberstanden, drängte sich an diesem Abend die Crème de la Crème deston, die Gentlemen in schimmernden schwarzen Frackröcken, die Damen in prachtvollen Satin- und Seidenroben, die in der wogenden Menge wie leuchtende Farbtupfer wirkten. Allenthalben blitzten kostbare Juwelen, und Hunderte kultivierter Konversationen verschmolzen zu einem wohlmodulierten Stimmengewirr.
Mary hatte sich ins Halbdunkel unter der Sängerempore zurückgezogen, um das Objekt ihrer Begierde ungestört in Augenschein nehmen zu können. Dass Ryder sich ihr näherte, hatte sie erst gemerkt, als er plötzlich neben ihr stand und das Wort an sie richtete. Freilich bewegte er sich auch ungewöhnlich geschmeidig und lautlos, und das trotz seiner Größe. Und wie üblich unterstrich seine tadellos sitzende, streng geschnittene Abendgarderobe die kraftvolle Beweglichkeit seiner hochgewachsenen, muskulösen Gestalt. Mit der Schulter lässig gegen die Wand gelehnt, musterte er sie unter halb gesenkten Lidern hervor mit dem für ihn so typischen trägen Löwenblick.
Die meisten Menschen ließen sich von Ryders liebenswürdiger, freundlicher Art, die ein wenig an einen sanften Riesen erinnerte, täuschen. Mary nicht. Ihr war nicht entgangen, dass sich hinter seinen funkelnden grüngoldenen Augen ein Intellekt verbarg, der ihrem an Schärfe, Bestimmtheit und Entschlossenheit in nichts nachstand.
Doch trotz des irreführenden Eindrucks von Abgeklärtheit, den er wie üblich zur Schau trug, schien er von der Erkenntnis, auf wen ihr Interesse sich richtete, ehrlich überrascht zu sein. Jedenfalls dem Ton seiner Stimme nach zu urteilen – und der Tatsache, dass seine schweren Lider sich bei dem verstohlenen Blick über ihre Schulter hoben und seine Augen sich verblüfft weiteten.
Im Stillen bedachte Mary ihn mit einem höchst undamenhaften Schimpfnamen – er war wahrhaftig der letzte Mensch, den sie in die Angelegenheit einzuweihen wünschte –, dann heftete sie den Blick auf seine grünlich golden schillernden Augen, als wollte sie ihn hypnotisieren. „Lassen. Sie. Mich. In Ruhe.“
Wie zu