: Tillmann Bendikowski
: Helfen Warum wir für andere da sind
: C.Bertelsmann Verlag
: 9783641195304
: 1
: CHF 6.20
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Im Herbst 2015 wurde in Deutschland die Willkommenskultur geboren. Eine Kultur des Helfens, die schnell, pragmatisch und effektiv von tausenden Menschen gelebt wurde, um jenen ein erstes Überleben zu sichern, die zu Hunderttausenden vor Krieg und Hunger flohen. Infrastrukturen des Helfens entstanden binnen kürzester Zeit aus der Mitte der Bürgergesellschaft und ließen staatliche Hilfssysteme starr und schwerfällig erscheinen. Tillmann Bendikowski hat das zum Anlass genommen, diesem erstaunlichen Phänomen in Geschichte und Gegenwart nachzuspüren. Anhand von Gesprächen mit Menschen, die unterschiedliche Erfahrungen mit dem Helfen gemacht haben, und mit Blick auf jene, die zu Ikonen der Barmherzigkeit geworden sind, zeigt er, wie Hilfsbereitschaft Menschen und Gesellschaften verändert und dass diese ein Gradmesser für die Menschlichkeit einer Gemeinschaft sein kann. Bendikowski forscht aber auch nach psychologischen Aspekten des Helfenwollens.

Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, ist Journalist und promovierter Historiker. Als Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg schreibt er Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. Seit 2020 ist er als Kommentator im NDR Fernsehen zu sehen, wo er in der Reihe »DAS! historisch« Geschichte zum Sprechen bringt, und zudem regelmäßiger Gesprächspartner bei Spiegel TV. Bei C.Bertelsmann erschienen »Ein Jahr im Mittelalter« (2019), »1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit« (2020), der Bestseller »Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39« (2022) und zuletzt »Himmel Hilf. Warum wir Halt in übernatürlichen Kräften suchen: Aberglaube und magisches Denken vom Mittelalter bis heute« (2023).

VORWORT
EINE KULTUR DES HELFENS

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.

Johann Wolfgang von Goethe

Deutschland im Sommer 2015: Das Land war plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Als die Flüchtlinge zu Hunderttausenden ins Land kamen, waren sie plötzlich da, die hilfreichen Menschen. An Bahnhöfen streiften sich Studenten gelbe Warnwesten über, um völlig entkräftete Menschen aufzulesen und zu Sammelplätzen zu geleiten. Passanten brachten spontan Lebensmittel oder kauften auf Bitten der Helfer dringend benötigte Windeln in einem nahen Supermarkt. Schulen im ganzen Land sammelten Kleider und Kinderspielzeug, Betriebe und Vereine organisierten Unterstützung. In Turnhallen, Theatern und schließlich sogar in Jugendherbergen fanden die Gestrandeten Zuflucht, während überall eilig Wohncontainer und Zelte aufgebaut wurden, um den Menschen zumindest ein provisorisches Dach über dem Kopf bieten zu können. Unerwartet viele Deutsche demonstrierten, dass sie helfen wollten und helfen konnten. Deutschland schien in diesen Tagen ein anderes, ein neues Gesicht zu zeigen – die »Willkommenskultur« war geboren und wurde zu einem neuen, festen Begriff in der politischen Kultur.

Hatte sich Deutschland verändert? Als die Flüchtlinge in immer größerer Zahl kamen, machten auch fremdenfeindliche Zwischenfälle und Demonstrationen Schlagzeilen. Geplante und sogar bereits genutzte Unterkünfte für Flüchtlinge wurden angezündet, manchmal entkamen Menschen nur mit knapper Not dem Tod. Tausende selbsternannte »Retter« eines imaginären »Abendlandes« zogen abends durch deutsche Städte und agitierten gegen die Zuwanderer und die Politik der Bundesregierung. Ihre Wortwahl und ihre Methoden waren abschreckend, der symbolische Galgen für denSPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Sigmar Gabriel ist bis heute unvergessen. Unterdessen erreichte die Zahl rechtsextremistischer Straftaten einen neuen Höhepunkt. Das war die hässliche Seite des Jahres 2015, die auch das Gegenteil der Willkommenskultur offenbarte.

Aber die Veränderungen, die durch die kollektive Hilfsbereitschaft vorangetrieben worden waren, ließen sich nicht mehr rückgängig machen. Innerhalb kurzer Zeit hatten sich, zumeist ohne festen organisatorischen Charakter und zuweilen nur vorübergehend, lokale Hilfsstrukturen gebildet, die zusammengenommen die Grundlage für eine neue Kultur des Helfens bildeten. Alle Beteiligten machten damals eine neue Erfahrung: Zu Helfern gewordene »normale« Menschen lernten Tag für Tag, dass sie Not rasch lindern konnten und dass sie manchmal sogar schneller, konkreter und effektiver helfen konnten als der Staat. Und die etablierten Strukturen des Sozialstaates nahmen ebenso wie die großen Hilfsorganisationen dieses unerwartete zivilgesellschaftliche Angebot des Zupackens nach anfänglicher Irritation gern an, nicht zuletzt weil die staatlichen Stellen vom Ausmaß der Herausforderung erstaunlich rasch überfordert wurden.

Gemeinsam versuchten fortan professionelle und ehrenamtliche Helfer, auch unkonventionelle Wege zu gehen – oft mit Erfolg. Das machte wiederum Mut, sich auch weiterhin für die Gestrandeten zu engagieren. Es ging hierbei nicht um abstrakte Flüchtlingspolitik, über die man schon im Sommer 2015, mehr noch aber dann in der Folgezeit, heftig stritt. Vielmehr wurde abseits politischer oder ideologischer Debatten schlicht praktisch geholfen. Und dies in einem ganz essenziellen Maß: Kinder mussten erst einmal Nahrung und Kleidung erhalten, Familien brauchten für den Herbst und den Winter wenigstens eine vorläufige Bleibe. Es war ein Helfen in einem ganz ursprünglichen Sinn gefordert: Hilfe zum Überleben. Das war eine neue Herausforderung für die Deutschen, die sich in dieser Situation großzügig mit ihrer Hilfsbereitschaft zeigten.

Der Impuls zum Helfen wurde auch nicht dadurch geschmälert, dass man die engagierten Zeitgenossen zuweilen belächelte oder sie gar als »Gutmenschen« bezeichnete, was ausdrücklich als Kritik an ihrem Engagement und i