2.
An einem Freitagnachmittag, ungefähr fünf Wochen später, lief ich in meiner Wohnung umher und wartete auf Milan. Wir hatten uns im alten Vorstadt-Stil lose verabredet, er war zu spät. Ich räumte irgendwas aus der Küche ins Zimmer und ging in die Küche zurück. Die Wohnung bot nicht viel Platz, um sich zu bewegen, aber sitzen wollte ich auch nicht. Am gardinenlosen Küchenfenster blieb ich vor dem kleinen Tisch stehen und sah, wie schon oft zuvor, den Fußballspielern zu.Über den Hinterhof konnte man die linke Hälfte des Sportplatzes auf der anderen Seite der Weserstraße sehen, weil der große Krieg den gegenüberliegenden Seitenflügel mit sich genommen hatte. Die Sonne schien, aber nicht in mein Fenster, das fast reine Nordseite war. Während es draußen schon Frühling wurde, verharrte bei mir, wie in vielen anderen Hinterhofwohnungen des Friedrichshains, der Winter. Kalte Mauern und ein nicht mehr beheizter Ofen verzögerten den Wechsel der Jahreszeiten erheblich. Auf der Straße erkannte ich die anderen Hinterhofbewohner daran, dass sie mindestens eine Jacke zu viel angezogen hatten und ungläubig in den Himmel schauten, wenn sie aus ihren Häusern ins Licht traten. Im Moment versuchte ich, der Kälte mit dicken Socken und jamaikanischer Musik beizukommen. Kohlen hatte ich keine mehr im Keller. Ich räumte das benutzte Geschirr der letzten zwei oder drei Tage in die Spüle und hob den Toaster wieder auf den Tisch. Beim Frühstück hatte ich ihn mir zwischen die Beine gestellt und als Heizung benutzt. Auf Abwaschen hatte ich keine Lust, der Boiler war seit Tagen ausgeschaltet und meine Hände trocken und rissig. Das Spiel verließ, bis auf den Torhüter und zwei recht unbeteiligt wirkende Verteidiger, die linke Seite. Ich fühlte ein Kribbeln im Bauch und lief etwas planlos zurück ins Zimmer. Die Aussicht war hier dieselbe wie in der Küche. Mehr Fenster hatte ich nicht. Ich wechselte die Platte und kratzte mich am Kopf. Das Warten und meine Wohnung machten mich nervös.
Die durchweg sonnigen Tage der vorangegangenen Woche hatten einander wie ein Ei dem anderen geähnelt. In meiner Erinnerung vermischten sie sich miteinander undverschwammen zu einem einzigen Tag: Ich schlief bis Anschlag aus, hörte beim Aufstehen chillige Musik, frühstückte täglich härter werdendes Brot mit Erdnussbutter und Käse, trank grünen Tee und ging dann bei Jan vorbei. Dazu musste ich meine vier Treppen runter,über den Hof, rechts aus dem Haus, fünfzig Meter die Weserstraße entlang und noch mal hundert die Neue Bahnhofstraße hoch. Wenn die Putztruppe die Stahltür zum Puff neben meinem Haus aufgelassen hatte, glotzte ich jedes Mal wie von einer fremden Macht gesteuert rein. Der fleckige rote Samt sah bei Tageslicht unappetitlich aus. An der Ecke zur Neuen Bahnhofstraße blieb ich kurz vor der Litfaßsäule stehen und checkte die Tafel mit dem Tagesgericht der Assikneipe. Hier gab es immer nur Klassiker: Pferderouladen, Eisbein mit Erbspüree, Brühpolnische mit Kartoffelsalat, Karpfen blau. Für mich als Vegetarier hatten diese Schrecklichkeiten etwas abstoßend Lustiges, wie Splatter-Szenen in den Filmen von Peter Jackson. Dann lief ich die Neue Bahnhofstraße hoch. Von allen Straßen des Friedrichshains war sie wahrscheinlich die hässlichste: vierspurig, mit extrem schmalen Gehwegen, an denen sich lückenlos graue und braune Hausfassaden aneinanderreihten, zugekackt, dicht beparkt und mit ungefähr acht traurigen Bäumen auf dem ganzen Stück zwischen Weserstraße und Boxhagener. Einzig die Eldenaer Straße konnte ihr in puncto Ungastlichkeit das Wasser reichen. Ich ging an dem geschlossenen Spätkauf, dem kleinen Secondhandshop und demÖkoladen der weißen Rastafrau vorbei, kurz vor der Boxhagener Straße erreichte ich dann Jans Haus. Seine Hofeinfahrt roch immer nach Urin. Wenn es weniger als zwanzig Grad waren, trocknete die Pissepfütze hinter deräußeren Tür erst gar nicht. Schuld war die Dönerbude an der Ecke. Da half es auch nicht, dass Jan in großen Buchstaben»WER HIER HIN PISST KRIEGT AUFS MAUL!!« oberhalb der Briefkästen an die Wand geschrieben hatte.Über den immerhin mit einem Baum bepflanzten, aber sonst nur zum Abstellen von Müllcontainern benutzten Hof kam ich in das Hinterhaus. Ich stieg die zwei Treppen zu Jans Wohnung hinauf und passierte dabei auf halber Strecke sein Außenklo. Es sah hier eher nach einem Club als nach einem Mietshaus aus. Die Wände des Treppenhauses waren unsauber rot gestrichen und mit Plakaten beklebt. Sie kündigten unter anderem die Skatalites im SO36 an, riefen zum großen Mayday-Rave für den Erhalt des DDR-Jugendradios DT 64 auf und machten Werbung für diePer Anhalter durch die Galaxis-Show von Feeling B im Tränenpalast.Über den Plakaten befanden sich wiederum mehrere Schichten Tags und Spuckis, wobei ich vor allem die»Teetrinken gegen Ausländerfeindlichkeit«-Aufkleber von Grufti-Steffen immer noch lustig fand. An Jans zigfachübersprühter Wohnungstür hing ein vom Mehrfachgebrauch abgenutzter Zettel, der mir mitteilte:»Bin aufm Dach.«
Über das Treppenhaus des kaum mehr bewohnten Seitenflügels gelangte ich auf den Dachboden, der mit Gerümpel aus Ostzeiten vollgestellt war. Von dort brachte mich eine hohe und wack