: Walter Rauscher
: Das Scheitern Mitteleuropas 1918-1939
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218010535
: 1
: CHF 15.20
:
: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Walter Rauscher, der sich mit Biografien über Karl Renner und Reichspräsident Hindenburg sowie mit der Doppelbiografie 'Hitler und Mussolini' als Sachbuchautor einen Namen machte, zeigt in seinem neuen Buch auf, wie der Frieden in Europa in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dramatische Weise scheiterte. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, erbitterte Streitigkeiten um territoriale Grenzen bestimmten zwei Jahrzehnte lang das politische Geschehen. Nationale Egoismen und ein wachsender Antisemitismus vergifteten das gesellschaftliche Klima. Staatenbund- und Zollunionsprojekte, die eine Entspannung der politischen und wirtschaftlichen Lage bringen sollten, scheiterten. Damit wurde der Boden für den Siegeszug der faschistischen Diktaturen bereitet: Mussolini in Italien, autoritäre Regime in Ungarn, Jugoslawien, Polen, Rumänien und dem restlichen Osteuropa, Ständestaat in Österreich und schließlich das Dritte Reich. Als Hitler Österreich annektierte und die Tschechoslowakei zerschlug, sahen die westeuropäischen Mächte tatenlos zu. Die Folgen sind bekannt: Der Zweite Weltkrieg entbrannte und brachte millionenfachen Tod, Vernichtung, Vertreibung und verheerende Zerstörung.

Walter Rauscher ist Historiker und Spezialist für die europäische Ge­schichte des 19. und 20. Jahrhun­derts. Als Forscher, zunächst des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts und danach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte er zahlreiche, teilweise auch in andere Sprachen übersetzte Bücher und gab gemeinsam mit anderen Historikern über zwei Jahrzehnte lang die Serie 'Außenpolitische Dokumente der Repu­blik Österreich 1918-1938' heraus.

I
1918: Das Ende der Alten Welt


Mitteleuropa war nie ein Staat oder gar ein Reich. Als Phantom, Mythos, Niemandsland, Hassgemeinschaft oder Nostalgie bezeichnet, ist es weder geografisch noch politisch oder kulturell eindeutig zu definieren. Welche Staaten oder Nationen Mitteleuropa zuzuschreiben sind, wird durch das Fehlen eindeutiger Abgrenzungskriterien und wegen zahlloser Überschneidungen stets strittig bleiben.1 Ist also Mitteleuropa bloß ein Synonym für eine Zusammenfassung der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie? Gehört Deutschland dann nicht zu Mitteleuropa? Oder soll als Mitteleuropa all das bezeichnet werden, was einmal den Habsburgern gehörte und dem sie als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches oberster Souverän waren? Schließt Mitteleuropa daher, abgesehen von den deutschen Ländern, auch Norditalien, Elsass-Lothringen und Luxemburg mit ein? Ist die Schweiz dagegen bloß geografisch, aber nicht politisch ein Teil dieses Raums?

Vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen Berlin und Wien um die Lösung der deutschen Frage entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Alternatividee Mittele­uropa. Anders als die rein deutschen Pläne umfasste sie, gleichsam von Hamburg bis Triest, Deutschland und die gesamte Habsburgermonar­chie. Der österreichische Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg sprach dabei von einem „Reich der 70 Millionen“. Aber sowohl damals als auch in weiterer Folge ging es beim Begriff Mitteleuropa in letzter Konsequenz stets um die Vorherrschaft der Deutschen in diesem Raum. Im Ersten Weltkrieg erfuhr der Begriff Mitteleuropa zu guter Letzt durch alldeutsche Fantasien eines Staatenbunds unter der Führung Berlins eine surreal anmutende Ausdehnung vom Nordkap bis zum Persischen Golf.2

Die Habsburgermonarchie, jene „Experimentieranstalt für Weltuntergänge“, wie sie Karl Kraus einmal gewohnt spöttisch bezeichnete, lebte Mitteleuropa. Doch das Vielvölkerreich befand sich im Zeitalter des Nationalismus in der Dauerkrise. Sein eklatanter Reformstau forderte seit der Revolution von 1848 die politische Intelligenz heraus, sich mit der Nationalitätenfrage, einem zumeist föderalen und demokratischen Umbau der Donaumonarchie und damit auch mit der Gestaltung Mitteleuropas zu beschäftigen. Nicht alle diese Vordenker, ob sie nun aus der Sozialdemokratie stammten oder dem Kreis um Thronfolger Franz Ferdinand angehörten, blieben machtlose Intellektuelle, Ex-Politiker oder Emigranten. Zwei von ihnen wurden sogar zu Staatsgründern: Tomáš Garrigue Masaryk und Karl Renner. Aber auch andere spielten nach dem Zerfall der Doppelmonarchie in der Zwischenkriegszeit eine wichtige politische Rolle, wie etwa Otto Bauer oder Milan Hodža. Ganz ohne Sarkasmus nannte der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie, Viktor Adler, die Habsburgermonarchie eben auch eine „Experimentierkammer der Weltgeschichte“.3

Der Zusammenbruch


Historisch unbestreitbar umfasste Mitteleuropa bis zum November 1918 zwei Kaiserreiche: das deutsche der Hohenzollern und das multiethnische der Habsburger. Beide Monarchien überlebten die Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht. Während in Deutschland die Staats- und Regierungsform wechselte, zerfiel Österreich-Ungarn in die sogenannten Nachfolgestaaten. Für die vor allem durch die Sozialdemokratie repräsentierten fortschrittlichen Kräfte beider europäischer Großstaaten und die mittlerweile die nationale Selbstbestimmung fordernden Völker der Donaumonarchie bedeuteten die Revolutionen im Herbst 1918 den Aufbruch in eine neue, bessere Zeit, für die konservativen, monarchistischen und weitgehend unpolitischen Bevölkerungsteile hingegen das Ende der Alten Welt.

Das Habsburgerreich hatte, der Unterstützung Deutschlands gewiss, mit seinem Feldzug gegen Serbien im Sommer 1914 den Ersten Weltkrieg entfesselt. Im Herbst 1918 stand zwar das k. u.