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Forschung
Donald Currie (*1966) war schlank, mittelgroß, hatte kurzes, lichtes Haar und ein normales, freundliches Gesicht. Er sah aus wie ein Büroangestellter oder ein Lehrer – einer, der nach Feierabend in die Kneipe geht und am Wochenende Fußball spielt. Doch für Kneipen und Fußball hatte der echte Donald Currie keine Zeit. Als er im November 2006 in England vor Gericht stand, war er bereits seit zwanzig Jahren politischer Aktivist. Seinen Job als Krankenpfleger hatte er vor Jahren geschmissen. An den Abenden traf er sich mit Kameraden und plante die jeweils nächste »Aktion«. Und am Wochenende stand er vor dem Supermarkt, sammelte Unterschriften und verteilte Flugblätter. Seine Partnerin und er bewohnten ein heruntergekommenes Haus in der südenglischen Küstenstadt Bournemouth. Ihre Leidenschaft waren die Tiere. Currie war Veganer und aß weder Fleisch noch Milchprodukte. Dass Tiere von Menschen gezüchtet und gequält wurden, widerte ihn an. Sein Lebenszweck war, dies zu stoppen – mit allen Mitteln.1
Curries Festnahme geschah unter dramatischen Umständen. Die Polizei überraschte ihn, als er gerade dabei war, unter einem Auto eine Bombe zu montieren. Als Currie die Polizisten bemerkte, rannte er davon, sprang über mehrere Büsche und schleuderte einen weiteren Sprengsatz in ihre Richtung. Das Auto, das Currie in die Luft jagen wollte, gehörte der Frau eines Unternehmers, dessen Firma ein Tierversuchslabor in Oxford belieferte.2 Vor Gericht beteuerte Currie, er hätten niemandem schaden wollen: Die Autobombe sei lediglich eine Warnung gewesen.
Doch die Beweise waren eindeutig. Zu offensichtlich war seine Verstrickung in die Kampagne derAnimal Liberation Front (ALF), der Tierbefreiungsfront, die seit Jahren mit Gewalt für die Schließung des Labors kämpfte. Dabei schreckte die Gruppe vor nichts zurück: Mitarbeiter wurden eingeschüchtert, ihre Kinder bedroht, Autos und Häuser angezündet. Selbst Zulieferer gerieten ins Fadenkreuz der ALF: »Jeder, der mit [dem Labor] Geschäfte macht – selbst der Besitzer des Pubs, in dem die Mitarbeiter abends trinken –, ist ein legitimes Ziel«, so ein Statement der Gruppe.3
Für das Gericht bestand kein Zweifel, dass Currie ein gefährlicher Terrorist war.4 Doch die öffentliche Reaktion war zurückhaltend. Viele Zeitungen bezeichneten Currie nicht als Terroristen, sondern als »militanten Tierschützer«. Er war zu weit gegangen, keine Frage, aber die Sache, für die er kämpfte, genoss bei vielen Menschen Unterstützung. (Fast 80 Prozent der britischen Bevölkerung sprachen sich in Umfragen gegen Tierversuche aus.) In der linksalternativen Szene wurde Currie durch seine Verurteilung zum Helden. »Donald ist eine Inspiration«, schrieb ein einflussreicher Aktivist. »Der Druck auf diejenigen, die mit Gewalt gegen Tiere Geld verdienen, wird durch seine Verurteilung noch größer werden.«5
Curries Geschichte illustriert die Probleme, die es beim Erforschen der Radikalisierung gibt. Das beginnt mit den Begriffen, die zur Beschreibung des Phänomens verwendet werden: War Currie ein Extremist, ein Terrorist oder doch nur ein »militanter Tierschützer«? Wer entscheidet, was solche Wörter bedeuten, und mit welcher Konsequenz? Mehr noch: Was bedeutet Radikalisierung, und wie kann sie besser verstanden werden? Lassen sich Fälle wie Currie voraussagen, und welche wissenschaftliche Disziplin ist dafür am besten geeignet?
In diesem Kapitel versuche ich, Schlüsselbegriffe voneinander abzugrenzen und zu zeigen, welche Chancen, Probleme und Hindernisse es bei ihrer Erforschung gibt. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick ernüchternd: Nicht nur sind viele Definitionen schwammig, sondern es existieren auch keine treffsicheren Instrumente, die präzise Vorhersagen ermöglichen würden. Und trotzdem hat es Sinn, sich