Jetzt oder nie
An einem lauen Septemberabend saß Santiago bei einem Glas Wein auf der Terrasse vor dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Der Blick ins Tal und auf die dahinterliegenden Berge war ihm vertraut wie alles um ihn herum.
Das Dorf, das unter ihm lag, der Fluss, an dem er als kleiner Junge geangelt hatte, der kleinbürgerliche Garten mit Tomaten, Zwiebeln, Bohnen und Zucchini. Von weitem hörte man schwach das Geräusch der Eisenbahn, welches sich mit dem Zirpen der Grillen mischte. Die wärmenden Sonnenstrahlen empfand er als sehr angenehm und er ließ seinen Gedanken freien Lauf.
Die Zeit verging und er hatte ganz vergessen, auf die Uhr zu schauen. Erschrocken sprang er auf, griff seinen bereits gepackten, grün marmorierten Koffer und warf ihn in den Kofferraum, seinen Panamahut auf den Nebensitz und brauste los. Santiago hatte Glück, fand sofort einen Parkplatz, stürmte quer durch die Bahnhofshalle, rannte den Bahnsteig entlang, der mit der Pfeife pfiff bereits, und im allerletzten Moment sprang er in den wartenden Zug.
Er öffnete die Waggontür und ein netter Steward fragte ihn nach Namen und Personalausweis und führte ihn zu seiner Suite. Suite? Ja, denn er befand sich nicht in einem normalen Zug, sondern in dem luxuriösen 5-Sterne-HotelzugTranscantábrico, einem Zug aus dem letzten Jahrhundert, der an der Nordküste Spaniens entlangfährt.
Nachdem er mit großen Augen seine geräumige Suite bestaunt hatte, hängte er seinen einzigen Anzug auf einen Bügel und stellte Rasierzeug und Zahnbürste in das komfortabel eingerichtete Bad. Danach ging er in den Salon-Wagen, wo ihn ein höflicher Kellner begrüßte, ihm einen Platz anwies und ihn nach seinen Wünschen fragte. Er bestellte, lehnte sich zurück und genoss die schöne Aussicht, die vorbeiziehende Landschaft und vor allem das Ambiente um ihn herum. Von irgendwoher drang sogar Musik an sein Ohr, die ihm sehr bekannt vorkam, ein Stück von Andrea Bocelli. Sie wurde mit der Zeit allerdings immer lauter und eindringlicher, schien immer näher zu kommen, sie fing an, ihn zu belästigen bis Santiago bemerkte, dass er nicht Reisender imTranscantábrico war, sondern immer noch auf der Terrasse vor seinem Elternhaus saß, sein Mobiltelefon sich in fein vibrierender Weise an den Rand des kleinen Gartentischchens manövriert hatte. Er schmunzelte über sich selbst und rettete gerade noch sein Telefon vorm Herunterfallen:
»Dígame?«, meldete er sich auf die in Spanien übliche Art, um zu erfahren, wer der unbekannte Anrufer war, der ihn aus demTranscantábrico herausgeholt hatte.
»Du musst mir helfen … du musst sofort kommen, große Katastrophe!«
Santiago war solche Notrufe gewohnt. Nein, er war kein Arzt, kein Tierarzt, kein Klempner und kein Zimmermann, aber als einziger in der Lage, dem armen Mann am anderen Ende zu helfen, den er sofort an der Stimme erkannt hatte.
Schnell ging er ins Haus, nahm seinen Autoschlüssel vom Schlüsselhalter in Form einer dekorativen Keramikkachel mit dem Bildnis der Madonna von Covadonga. Mit zwei Sätzen war er in der Garage – zum Glück hatte er nur ein paar wenige Schlückchen Wein getrunken – ließ das Auto an und fuhr den Hügel hinab ins Dorf.
Bosque war ein kleines Dorf, eigentlich war es gar kein richtiges Dorf, und ein schönes schon gar nicht, sondern eine Ansammlung verstreut liegender Häuser, einem großen Kreisverkehr, um den herum sich eine Bank, eine Versicherungsagentur, ein Autohändler und eine Kneipe angelagert hatten.
Das war nicht alles, selbstverständlich musste man eine Kirche im Dorf lassen, selbst wenn deren Besucher immer weniger wurden. Die Bewohner von Bosque konnten außer beten und arbeiten auch essen, denn der kleine Lebensmittel