: Luuk van Middelaar
: Vom Kontinent zur Union Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa
: Suhrkamp
: 9783518748060
: 1
: CHF 37.00
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 600
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Euro Krise, »Flüchtlingskrise«, »Brexit« - die EU befindet sich an einem historischen Scheideweg. Nachdem es jahrzehntelang den Anschein hatte, die »Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas« sei nur eine Frage der Zeit, stellen unvorhergesehene Ereignisse die Logik der Integration infrage. Nationale Interessen rücken in den Vordergrund, das Ringen um gemeinsame Lösungen wird immer verzweifelter.

uuk van Middelaar, ein exzellenter Kenner der Brüsseler Praxis, verwandelt eine vermeintlich trockene Materie in den Stoff einer faszinierenden Erzählung. Beginnend mit dem 18. April 1951, als die Vertreter der sechs Gründerstaaten im französischen Außenministerium am Quai d'Orsay den Vertrag über die Errichtung der Montanunion unterzeichneten, schildert er die wichtigsten Etappen - und Krisen - auf dem Weg vom Kontinent zur Union. Er lässt die Atmosphäre dramatischer Gipfelnächte lebendig werden, zeigt, wie Politiker immer wieder versucht haben, die Öffentlichkeit von Europa zu überzeugen, und erinnert uns daran, welch einmaliges historisches Projekt aktuell auf dem Spiel steht.



<p>Luuk van Middelaar, geboren 1973 in Eindhoven, ist Historiker und politischer Philosoph. Er lehrt EU-Recht an der Universität Leiden und schreibt als Kolumnist für die Tageszeitung NRC Handelsblad. Für Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa erhielt er 2012 den Preis des Europäischen Buches.</p>

Vorwort zur deutschen Ausgabe[1]


 

 

Obwohl man sich lange genug darauf hatte einstellen können, sorgte das britische Referendum am Freitagmorgen des 24. Juni 2016 für einen enormen Schock. So mancher europäische Regierungschef hatte sich am Abend zuvor in der stillen Hoffnung ins Bett gelegt, die Abstimmung werde gut ausgehen. Umso größer war der Schreck in der Morgenstunde. Die Mehrheit der britischen Wähler hatte sich für den Austritt entschieden. Aus einer abstrakten Möglichkeit war über Nacht eine politische Tatsache geworden. Was nun?

Während an diesem Freitag die erstaunlichen Ereignisse und Abrechnungen in London die Welt in Atem hielten, rückte auch der Kontinent ins Licht der Scheinwerfer. Auf Bitten von 10 Downing Street hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs monatelang kaum mehr getan als gewartet, gehofft und Kerzen angezündet. Plötzlich stand nicht allein die Zukunft Großbritanniens, sondern auch die von Europa insgesamt auf dem Spiel. Schnell machte sich die Erkenntnis breit, dass der »Brexit« auch diesseits des Ärmelkanals große Unsicherheit bedeutet. Immerhin verabschiedet sich damit Europas zweitgrößte Volkswirtschaft, eine militärische und diplomatische Großmacht mit etwa einem Achtel der Bevölkerung der Union. Das interne Gleichgewicht in der Union wird sich verschieben, die deutsche Macht noch deutlicher zutage treten. Von Frankreich über die Niederlande bis nach Österreich – überall fühlen sich die Populisten bestärkt, weitere Austrittsreferenden könnten folgen.

Für Europa bedeutet der britische Austritt eine Amputation, aber nicht den Todesstoß – vorausgesetzt, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker bekommen die entfesselten Kräfte wieder unter Kontrolle. Von den siebenundzwanzig Regierungen erfordert das Lebenswillen und Entschlossenheit, die in Initiativen münden müssen, um das Vertrauen ihrer Bevölkerungen zurückzuerobern. Die Staats- und Regierungschefs stecken in einer Zwickmühle: Sie müssen zeigen, dass die Union glaubwürdige Antworten auf reale Probleme bieten kann, und dabei gleichzeitig die Desillusionierung ihrer eigenen Wähler gegenüber ebendieser Union im Auge behalten. Es gilt, neue Unterstützung für Europa zu gewinnen, ohne diese gleich wieder zu verlieren.

Das Ergebnis des Referendums widerspricht einem uralten Axiom der europäischen Politik. Seit den Kohle-und-Stahl-Tagen von Schuman und Adenauer setzt man auf die sorgfältige Verflechtung wirtschaftlicher Interessen als Garantie für Frieden und Wohlstand. Ökonomische Interdependenz, so die Idee, werde unwiderruflich zu besseren Beziehungen zwischen dankbaren Völkern führen. Die britischen Wähler straften dieses Integrationsaxiom Lügen. Die Aversion gegenüber Immigranten war stärker als die Angst vor Wohlstandsverlust; Identitätspolitik siegte über wirtschaftliche Interessen. In der Logik der Gründerväter war eine solche Entscheidung undenkbar. Die Flutwelle spülte noch einen weiteren heiligen Lehrsatz der Brüsseler Doktrin hinweg: die Überzeugung, Integration sei eine Einbahnstraße. Es könnten zwar weitere Länder und Zuständigkeitsbereiche dazukommen, Austritte oder eine Rückübertragung von Kompetenzen seien jedoch unmöglich. Kurz, wir bewegten uns unaufhaltsam in Richtung einer »immer engeren Union«. Diese Unumkehrbarkeit erweist sich als Illusion. Plötzlich spürt die Europäische Union ihre historische Verletzbarkeit.

Sie kann aus dieser Entdeckung allerdings auch neue Kraft schöpfen. Dazu müsste sie jedoch anerkennen, dass sie nicht länger allein von der alten Brüsseler Methode vorangetrieben wird, dass sie seit Langem dabei ist, sich in einen politischen Körper zu verwandeln, und dass öffentlicher Widerspruch der Sauerstoff ist, den sie benötigt, wenn sie handlungsfähig sein will.

 

Angesichts