Vorwort
Im Jahr 2017 begehen wir den fünfhundertsten Jahrestag eines bahnbrechenden Ereignisses der westlichen Zivilisation: des Beginns der protestantischen Reformation. Aus geringfügigem Anlass – einem theologischen Streit in Ostdeutschland – entwickelte sich eine stürmische Erneuerungs- und Reformbewegung, die alles infrage stellte, dem Bestehenden die Stirn bot und letztlich äußerst spaltend wirkte. Innerhalb einer Generation veränderte der Reformbegriff seine Bedeutung grundlegend. Anhänger der Bewegung, die sich mittlerweile Protestanten nannten, trennten sich von der westlichen katholischen Tradition – eine permanente Loslösung, die unversöhnlich war, wie sich herausstellen sollte. In den folgenden zwei Jahrhunderten zerfiel Europa in sich bekämpfende Kirchen, gespaltene Familien und verfeindete Staaten. Die Feindschaft zwischen Protestanten und Katholiken beherrschte die europäische Politik und entfachte Kriege, die mit mörderischem Hass geführt wurden. Die Christenheit zerfleischte sich im Kampf gegen den inneren Feind. In ganz Europa zog man die Staatsmacht heran, um Ketzer oder Verräter hinzurichten – also die Abtrünnigen von der örtlich geltenden Religion, sei sie nun protestantisch oder katholisch.
Diese erbitterte, grausame Spaltung erwies sich als dauerhaft. So demonstrierte der König von Frankreich 1685 seine Frömmigkeit, indem er seine verbliebenen protestantischen Untertanen des Landes verwies: Bis zu 900 000 Protestanten mussten ihre Heimat für immer verlassen. Drei Jahre später vertrieb England seinen König, weil er katholisch war; von da an schloss ein Gesetz alle von der Thronfolge aus, die einen Katholiken heirateten – eine Regelung, die erst 2013 aufgehoben wurde. Diese Risse und zersetzenden Konfessionsbindungen wanderten vom alten Europa auch über den Atlantik: Erst 1960 wählten die Vereinigten Staaten ihren ersten katholischen Präsidenten, und das auch nur mit der denkbar knappsten Mehrheit.
Das Ereignis, das in der Geschichtsschreibung den Beginn dieser Umwälzungen markiert, ist in diesem Kontext erstaunlich banal. Mittlerweile datieren wir die Reformation auf den 31. Oktober 1517, an dem ein kaum bekannter deutscher Professor eine akademische Disputation anstieß – ein so alltäglicher Vorgang an den Universitäten des 16. Jahrhunderts, dass niemand es damals der Mühe wert fand, festzuhalten, ob die Disputationsthesen gedruckt und am üblichen Schwarzen Brett der Universität, nämlich der örtlichen Kirchentür, angeschlagen wurden. Dieser Professor war Martin Luther, und seine 95 Thesen gegen den Ablass lösten eine unerwartet hitzige Debatte aus. Innerhalb von fünf Jahren geriet die deutsche Kirche in Aufruhr, wurde Luther als Ketzer geächtet und stieg zum berühmtesten Mann Deutschlands auf.
Wie ein akademischer Streit in Nordostdeutschland zum Keim einer großen Bewegung werden konnte, ist erklärungsbedürftig. Es liegt nicht in meiner Absicht, diese Erklärung in einer weiteren Lutherbiografie zu suchen. Luther war, wie sich zeigen wird, ein bemerkenswerter Mann voller Mut und Talent, der seinen Schicksalsmoment außerordentlich gekonnt und einfallsreich zu nutzen wusste. Sein Leben und Wirken war von seinen Lebzeiten bis heute Gegenstand unzähliger Studien und Neubewertungen, und der Jahrestag der Reformation wird Anlass zu weiteren Bestandsaufnahmen bieten. Dieses Buch verfolgt einen völlig anderen Zweck: Es befasst sich mit der Frage, wie ein theologischer Streit im gänzlich andersartigen Kommunikationsumfeld, das vor fünfhundert Jahren herrschte, zu einem großen öffentlichen Ereignis werden konnte, das Kleriker und Laien über weite Teile des europäischen Kontinents erfasste.
Nichts von alledem verlief, wie es hätte laufen sollen. Die Kirchenhierarchie war 1517 fest von ihrer Fähigkeit überzeugt, dem Wirbel um Luther ein Ende setzen zu können. Die üblichen Kanäle, ein vertraulicher Brief an einflussreiche Persönlichkeiten, untermauert von einem Gerichtsverfahren in Rom, hätten genügen müssen, einen aufrührerischen Priester zum Schweigen zu bringen. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass die Kritik am Ablasshandel, die damals in intellektuellen Kreisen bereits recht verbreitet war, sich zu einer öffentlichen Bedrohung auswachsen würde. Vor allem aber bestand kein Grund zu der Annahme, dass Kursachsen, ein mittelgroßes Fürstentum fernab von den großen europäischen Machtzentren, zur Brutstätte einer Bewegung von europäischer T