: Juan Pablo Villalobos
: Ich verkauf dir einen Hund
: Berenberg Verlag GmbH
: 9783946334125
: 1
: CHF 16.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wieviele Kakerlaken passen in einen Aufzug? Hilft ­Adorno gegen amerikanische Missionare? Lebt die Revolution? Und vor allem: Was steckt »wirklich« in einem Taco? Fragen über Fragen, die Juan Pablo Villalobos in seinem rasanten Senioren­roman aufs vergnüglichste beantwortet. Nabel der Welt ist ein Wohnhaus im Herzen von Mexico City, wo der ganz normale Wahnsinn der Stadt auf ein paar Etagen zusammenschnurrt. Während der hausinterne Literaturkreis auf dem Flur tagt - unter dem strengen Regiment der rüstigen Francesca -, entspinnt sich auf den oberen Stockwerken irgendetwas zwischen Liebes-, Künstler- und Kriminal­geschichte. Ein großer Spaß, und das ganz ohne Rentner, die aus Fenstern steigen!

Juan Pablo Villalobos, geboren 1973 in Guadalajara, Mexiko, studierte Marketing und Literatur und lebt heute in Barcelona.

Damit sich kein Gesindel ins Haus schlich, musste der Eingang stets geschlossen sein. Passte irgendwer nicht auf, berief Francesca sofort eine außerplanmäßige Versammlung, der keiner entkam, solange der Schuldige nicht gefasst war. Die Disziplinarmaßnahmen reichten von einfacher Schelte bis zu Geldbußen, die in einem Glas für besondere Ausgaben gesammelt wurden. Breton und Stalin zusammen waren nichts im Vergleich zu Francesca. Einmal kam es zu einem legendären Vorfall, nach dem tatsächlich diskutiert wurde, einen Pförtner einzustellen. Alle sprachen auf die gleiche Weise von dem Vorfall: der Tag, als die Mormonen kamen. Er diente sogar als zeitlicher Bezugspunkt. Es hieß: eine Woche vor dem Tag, als die Mormonen kamen. Oder: zwei Tage nach dem Tag, als die Mormonen kamen. Alles geschah vor oder nach dem Tag, als die Mormonen kamen.

Das Ganze hatte sich an einem Mittwochnachmittag ereignet. Ich gönnte mir gerade ein Bier, drückte auf der Fernbedienung herum und blieb irgendwann bei Sergej Eisensteins schlitzohrigem Blick und seinem wirren Haar eines verrückten Professors hängen, als es an der Tür klingelte. An der Wohnungstür wohlgemerkt, nicht an der Haustür, was nur eins bedeuten konnte. In Wirklichkeit konnte es vieles bedeuten, was aber auf dasselbe hinauslief: Vertreter von Kosmetikprodukten, hungrige Straßenkinder, bettelnde Junkies, Leute von Telefongesellschaften, Stumme, die sprachen, Blinde, die sahen, Entführer, die einen direkt an der Tür abholten, dreiste Nervensägen, die sich nicht einmal die Mühe machten, sich eine bewegende Geschichte auszudenken. Nur die Lexikonvertreter waren von der Bildfläche verschwunden – ein sicheres Zeichen für den menschlichen Fortschritt. Ich dachte gar nicht daran, aufzumachen, ignorierte das Klingeln einfach und schaute mir weiter die Sendung an. Das Klingeln hörte nicht auf, und ich hörte nicht auf, das Klingeln zu ignorieren. Als die Werbung begann, klingelte es noch immer Sturm. Wer immer das war, er war auf fanatische Weise entschlossen.

Ich machte auf, und vor mir stand ein großer blonder Gringo, blass wie eine Larve. Er trug ein kurzärmeliges weißes Hemd, eine schwarze Hose und, auf Höhe des Herzens, ein kleines Schild mit einem Namen, der nach einem flämischen Maler von Stillleben klang.Willem Heda. Und weil die Lampe im Treppenhaus kaputt war, tauchte er passenderweise in einem starken Hell-Dunkel-Kontrast auf. Ich schätzte ihn auf unter zwanzig, wahrscheinlich sollte er sich erst in einem armen Land wie Mexiko die Türen vor der Nase zuschlagen lassen, bevor er in denUSAdie Universität besuchte. Vorausgesetzt, ein Universitätsbesuch war keine Sünde.

»Ich überbringe die Botschaft des Herrn«, sagte er.

»Prima«, antwortete ich, »was kostet das Gramm?« Erstaunt zog er die blonden Brauen hoch, so hoch, dass sie fast sein Haar berührten. Dann senkte er den Blick und betrachtete die Bibel, die er in der rechten Hand hielt. Schnell griff ich zurÄsthetischen Theorieim Regal neben der Tür, wo sie stets wie eine geladene Waffe bereit lag – man weiß ja nie. Er sah das Buch in meiner Hand zucken, und die Augenbrauen reichten ihm bis zum Nacken.

»Sind Sie Professor?«

»Wie kommst du denn auf den Quatsch?«

»Wegen dem Buch.«

Beide schauten wir auf meine Hand. Er starrte das Buch an wie einen Hund, der an die Leine gehörte. Als wäre es verboten, ein Buch ohne Leine mit sich herumzuführen.

»Das Buch? Das ist aus der Bibliothek, aber keine Sorge, es beißt nicht.«

»Ich überbringe die Botschaft des Herrn«, sagte er noch einmal. »Haben Sie fünf Minuten Zeit?«

Die Werbepause war zu Ende und die Sendung ging weiter. Ich hielt dieÄsthetische Theoriehoch, schlug sie aufs Geratewohl auf und begann zu lesen:

»Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachen.«

Er hielt die Bibel hoch, schlug sie aufs Geratewohl auf und begann zu lesen:

»Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe da, es war alles eitel und Haschen nach Wind. Krumm kann nicht gerade werden, noch, was fehlt, gezählt werden.«

Ich las weiter:

»Dem Tragischen selber schreibt avancierte Kunst die Tragödie, Erhabenes und Spiel konvergieren. Bedeutende Kunstwerke trachten danach, jene kunstfeindliche Schicht dennoch sich einzuverleiben. Wo sie, der Infantilität verdächtig, fehlt, hat Kunst kapituliert.«

Und er:

»Und ich richtete mein Herz darauf, dass ich lernte Weisheit und erkennte Tollheit und Torheit. Ich ward aber gewahr, dass auch dies ein Haschen nach Wind ist. Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muss viel leiden.«

Ich betrachtete abwechselnd die beiden Bücher. Seins war größer. Die Sendung lief noch, aber ich hatte schon das meisteverpasst. Ich trat zur Seite.

»Na los, komm rein. Was willst du trinken,Guilen

»Es wirdWillemausgesprochen.«

»Ach ja? Danke für die Erklärung. Ein Bierchen,Guilen

»Ein Glas Wasser, Bier ist Sünde.«

»Sag bloß! Setz dich, ich schaue mir gerade einen richtig tollen Dokumentarfilm an.«

»Worum geht es?«

»Um Intrigen und Ehebruch, und wie man wertloses Zeug zu Kohle macht.«

Er setzte seinen Rucksack ab und ließ sich auf einem Aluklappstuhl von Cerveza Modelo nieder. Dieb, der einen Dieb bestiehlt. Ich machte es mir in dem Sessel vor dem Fernseher bequem.

»Wie heißen Sie?«, fragte er.

»Teo.«

»Mateo?«

»Um Gottes willen.«

»Nur Teo?«

»Teodoro.«

»Wie der Autor des Buches?«

»Nein, der heißt Theodor.«

»Das ist das Gleiche.«

»Ist es nicht, er hat ein H, und es fehlt ein O.«

»Leben Sie allein?«

»Pssst, ich will die Sendung sehen.«

Er ergab sich in sein Schicksal und starrte auf den Bildschirm, wo Schwarz-Weiß-Fotos der Casa Azul zu sehen waren.

»Wer ist die Frau mit dem Schnurrbart?«

»Das weißt du nicht?! Das ist Frida Kahlo, sag nicht, du kennst sie nicht, die kennt ja jeder Amazonasindianer. Das ist eine Malerin, die so berühmt ist, dass man ihr in einem usbekischen Kaff eine Statue gewidmet hat, und in Bulgarien oder Dänemark hat man sogar den Internationalen Frida-Kahlo-Tag erfunden. Siehst du den Typ, der die Hose auf Höhe der Achselhöhlen trägt? Das ist Diego Rivera, der Herr des Hauses.«

»Ich würde gern mit Ihnen über das Wort des Herrn reden. Das Wort Gottes kann alten Menschen Trost spenden.«

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Pssst, pass auf.«

Im Fernsehen hieß es:Sie wollte ihre Freiheit, um auf elegante Weise ein Leben voller Schmerz zu überwinden.

»Wie gern sie alle leiden,Guilen. Was hat denn Eleganz mit Schmerz zu tun?«

»Schmerz führt uns zu Gott.«

»Und Eleganz in die Hölle. Du siehst übrigens verdammt elegant aus, richtig geschniegelt.«

Er lief rot an: Die Scham verwandelte ihn von einer Larve in eine Garnele. Oder von einer rohen Garnele in eine gekochte.

»Keine Angst«, beruhigte ich ihn, »das war ein Scherz.«

Auf dem Bildschirm flimmerten abwechselnd Bilder von Frida und Diego, von Eisenstein, Dolores del Río, Arcady Boytler, Miguel Covarrubias, María Izquierdo, Xavier Villaurrutia, Adolfo Best Maugard, Lola und Manuel Álvarez Bravo, Trotzki, Juan O’Gorman und Pita Amor. Willem starrte auf den Fernseher, dann ließ er den Blick durch die Wohnung schweifen. Er schien nach etwas zu suchen, um ein Gespräch anzufangen, und entdeckte das Bild an der Wand.

»Ist das ein Clown?«, fragte er.

»Das ist ein Porträt meiner Mutter«, antwortete ich.

»Tut mir leid«, sagte er und wurde wieder rot.

»Was tut dir leid? Dass du meine Mutter mit einem Clown verwechselt hast oder dass du ein Kunstbanause bist?«

Verwirrt dachte er nach.

»Soll ich lieber einen anderen Tag wiederkommen?«

»Willst du die Sendung nicht zu Ende sehen?«

»Ich würde mich gern über das Wort Gottes unterhalten.«

»Dann komm ein anderes Mal wieder. Wenn du Glück hast, mach ich sogar die Tür auf!«

Von da an kam er zweimal...