2. Gegen die Verächter des Glaubens
Die Gründer der „Evangelical Alliance“ wandten sich gegen die aufgeklärte Theologie und gegen die Verweltlichung (Säkularisierung) der großen Kirchen. Deshalb kritisieren sie bis heute den historisch-kritischen Umgang mit der Bibel, die Offenheit der Landeskirchen bzw. der EKD gegenüber der religionsfernen Umwelt, vor allem die Aufweichung von moralischen Normen und herkömmlichen Lebensformen, die sie als biblisch begründet verstehen. Für die Analyse muss aber unterschieden werden zwischen den historischen Erfahrungen auf der einen Seite, die zur Entstehung der evangelikalen Bewegung führten, und den vielfältigen Reaktionen dieser Bewegung auf der anderen Seite. Die historische Erfahrung war und ist, dass die Geltung des christlichen Glaubens als Grundlage von Lebensordnung und Lebenssinn in der Neuzeit in Europa verloren ging. Der Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Diese Erfahrung ist in gewisser Weise einfach und monumental; sie betrifft nicht nur die neuzeitlichen Erweckungsbewegungen, die Freikirchen, Pietisten usw. Sie betrifft alle Christen und die gesamte westliche Kultur. Die Reaktionen darauf, die sich in der evangelikalen Bewegung bündeln, sind eine andere Sache. Sie sind vielfältig und zum Teil gegensätzlich. Oft sind sie nachvollziehbar und fruchtbar, manchmal auch nicht. Einige Reaktionen sind ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels, sind also selbst weltlich und modern.
Kirche, Glaube und die Ringparabel
Wie kam es zum Geltungsverlust von Glaube und Kirche etwa seit der historischen Zäsur des Dreißigjährigen Kriegs? Es ist hier nicht möglich, diese vielschichtige Entwicklung über Jahrhunderte nachzuzeichnen, aber einige Grunddaten müssen angeführt werden. Im 18. und 19. Jahrhundert traten innerweltliche Sinngebungen in Konkurrenz mit dem Christentum, zuerst ein aufgeklärter Vernunftglaube, der zu einem Wissenschafts- und Fortschrittsglauben wurde und revolutionäre politische Bewegungen inspirierte, vor allem bei der Gründung der USA und in der Französischen Revolution. Dann entstanden säkulare Ideologien wie Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus usw. In der Konkurrenz mit diesen innerweltlichen Sinngebungen lösten sich die heilsgeschichtlichen und die überweltlichen (transzendenten) Inhalte des Christentums für viele Menschen auf, und zwar anfangs vor allem in der gebildeten Schicht der Bevölkerung, unter den Eliten. Der entscheidende Punkt war, dass die menschliche Vernunft zum Maßstab dessen wurde, was als wirklich und wahr gelten konnte. Und da die Wissenschaft sich auf die Letztinstanz der „Vernunft“ berief, setzte man das „wissenschaftliche Weltbild“ mit der Wahrheit gleich. Die evangelische Theologie folgte zum Teil dieser Entwicklung. Ein früher Vertreter ihres Aufklärertums war Hermann Samuel Reimarus (1694 bis 1768); die Titel seiner Hauptwerke sprechen für sich: „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“ erschienen 1754, darauf folgte 1756 die „Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit“. Sein wichtigstes Werk erschien erst nach seinem Tod, nämlich die „Apologie oder Schutzschrift f