Kurzgeschichte
Mit dem Strom der Gestressten
Radebeul, 1992–1995
Neuanfang im Osten
Während sich 1989/1990 in Deutschland die politische Wende vollzog, arbeitete ich in unserem Familienunternehmen in Langen, einer Kleinstadt in Hessen. Als Helmut Kohl dann westdeutsche Pioniere zum Aufbau blühender Landschaften in die neuen Bundesländer sandte, schickten meine Eltern mich zum Aufbau einer Niederlassung unseres Handelsunternehmens nach Sachsen. Also zog ich 1992 gen Osten und konnte mich mit meinen dreißig Jahren endlich der ständigen Supervision meiner elterlichen Vormünder entziehen. Ein neuer Lebensabschnitt begann und meine Aussichten als Lebenskünstler, für den ich mich hielt, waren glänzend. Meine persönliche Stressampel stand auf Grün und meine Zukunft sah ich in Rosarot. Ich wusste nicht genau, wo die Lebensreise hingehen würde, aber eines wusste ich: Auf keinen Fall wollte ich so viel arbeiten und Stress haben wie mein Vater oder andere Stresstypen, deren Freizeit nur aus schweißtreibendem Schuften und deren Hobbys einzig aus mühsamer Maloche zu bestehen schienen. Ich wollte lieber tun, was mein Vater manchmal abschätzig als „Privatisieren“ bezeichnete. Jetzt, da ich geschäftlich endlich frei und ungebunden war, wollte ich meine Prioritäten Urlaub, Freizeit und Erlebnis nach Herzenslaune zelebrieren.
In dieser Zeit ergriff eine Art Goldgräberstimmung die Kaufleute aller Wirtschaftszweige im Westen. Montags schob sich eine zäh fließende Fahrzeugkarawane Richtung „Wilder Osten“, freitags zogen die Herren Verkäufer und Frauen Vertreter dann wieder zurück und ihre wuchtigen Wessi-Wagen stauten sich in langen Schlangen. Die A4 war anno dazumal noch eine üble Hubbelpiste, auf der man durchgeschüttelt wurde wie auf einem wilden Rodeo-Pferd.
Einer dieser ostwärts ziehenden Glücksritter war ich. Mit meinem Fahrzeug fuhr ich im Pendlerstrom von West nach Ost. Mit meinem Job war ich jedoch Teil einer viel größeren Bewegung: Ich schwamm mit dem mächtigen Wirtschaftsstrom des Westens, welcher nach der Wende die ganze Welt mit einer neuen Art des Arbeitens überschwemmte: Man stellte in allen Büros auf Business am Bildschirm um.
Ich hatte in jenen Tagen meinen ersten Laptop im Gepäck und versorgte auch die neu eingestellten Mitarbeiter mit Computern. Aufgrund meines Bildungsdefizits hatte ich zu der Zeit noch keine EDV-Vorkenntnisse und als einzigen Lehrer lediglich das unhandliche Handbuch von Microsoft Word. Wenige Jahre vorher hatte ich erstmals die deutsche Vokabel „Autodidakt“ mitgeschnitten. Als ich mir nun den Umgang mit dem PC selbst beibrachte, dämmerte es mir, dass ich wohl autodidaktisch veranlagt sein musste. Der Effizienzgewinn durch den Einsatz von PCs war phänomenal. Alles ging auf einmal viel rascher als vorher; unvorstellbar, wie viel Zeit wir plötzlich einsparten und welches Potenzial für Ruhe und Konzentration vor unseren Füßen lag!
Arbeitsplatz i