: Georg Cremer
: Armut in Deutschland Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?
: Verlag C.H.Beck
: 9783406699238
: 1
: CHF 11.70
:
: Politik
: German
: 272
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB

Die Armutsdebatte in Deutschland nützt den Armen nicht. Georg Cremer wirft einen schonungslosen Blick auf die rituelle, aber folgenlose Empörung, mit der das Thema Armut bei uns zumeist behandelt wird und zeigt, wo die Probleme wirklich liegen. Armut ist ein drängendes Problem in Deutschland, doch schrille Übertreibung führt nicht zu politischem Handeln. Dieses Buch räumt mit einigen verbreiteten Irrtümern und Fehlinterpretationen auf, zeigt, wo der Sozialstaat sich selbst im Weg steht und plädiert für einen breiten Ansatz der Armutspolitik. Sie darf sich nicht in der Grundsicherung erschöpfen, sondern muss auch das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die Arbeitsmarktpolitik mit einbeziehen und die Sozialpolitik präventiv ausrichten. Dabei geht es um eine Politik, die Menschen hilft, ihre Potentiale zu entfalten und die Teilhabe ermöglicht.



<p>Georg Cremer ist Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands e.V. und apl. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.</p>

2.

Was bedeutet Armut in Deutschland?


Der Vergleich mit der Dritten Welt führt in die Irre


Was bedeutet Armut in Deutschland? Ist es überhaupt sinnvoll, von Armut zu sprechen angesichts wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse, die Welten entfernt liegen von dem Leben in Hunger und Elend, dem ein Teil der Weltbevölkerung weiterhin ausgesetzt ist? Gemessen am Armutsbegriff der Vereinten Nationen gibt es keine Armut in Deutschland. In der Terminologie der Vereinten Nationen sowie der Weltbank, welche die wirtschaftliche Lage von Haushalten in nahezu allen Entwicklungsländern erforschen ließ, lebt in extremer Armut, wer sein Leben mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag fristen muss. Dieser Wert ist abgeleitet aus den nationalen Armutsschwellen der ärmsten Entwicklungsländer.[1] Wer unter diesem Niveau lebt, gilt auch in den ärmsten Ländern der Erde als arm. Arm zu sein bedeutet dort, unter Bedingungen zu leben, in denen die physische Existenz bedroht ist. Da in politischen Debatten immer wieder der Eindruck vermittelt wird, die Armut nehme weltweit zu, sei hier darauf hingewiesen: Die so gemessene Armut ist seit 1990 deutlich zurückgegangen. Der Anteil der Bevölkerung in extremer Armut in den Entwicklungsländern ist von 1990 bis 2015 von 47 % auf 14 % gesunken.[2] Es gibt also weltweit Fortschritte, wenn auch gemessen an einer bescheidenen Zielmarke. Die boomende wirtschaftliche Entwicklung in China und Indien hat dazu beigetragen, die extreme Armut dort zurückzudrängen. Aber auch heute leben mehr als 800 Millionen Menschen in extremer Armut. Abgekoppelt von jeder Besserung der Lebensverhältnisse sind vor allem die Menschen, die in Ländern mit Bürgerkrieg und massiver politischer Gewalt leben.[3]

In der deutschen Armutsdebatte gibt es immer wieder Versuche, unter Verweis auf extreme Armut in Entwicklungsländern die Kategorie «Armut» für Lebenslagen in prosperierenden Industrieländern grundsätzlich zurückzuweisen. Das hieße aber, Armut ohne jeglichen Bezug zum Wohlstandsniveau einer Gesellschaft definieren zu wollen. Oberhalb dessen, was zum unmittelbaren Erhalt der physischen Existenz auf unterstem Niveau erforderlich ist, lässt sich das, was als Minimum für den Lebensunterhalt angesehen wird, nicht ohne Bezug zu den Verhältnissen der jeweiligen Gesellschaft definieren.

Das betonte bereits der Gründungsvater der modernen Volkswirtschaftslehre, der schottische Moralphilosoph Adam Smith, in seinem Hauptwerk «Der Wohlstand der Nationen». Das Werk erschien erstmals 1776, zur Zeit der frühen Industrialisierung in England, die von materieller Entbehrung geprägt war. Es wäre damals weit naheliegender gewesen als heute, Armut als Mangel allein an existenznotwendigen Gütern zu fassen. «Unter lebenswichtigen Gütern», so Smith, «verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Leben notwendig. Griechen und Römer lebten, wie ich glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste. Denn eine solche Armut würde als schimpflich gelten … Ebenso gehören heute in England Lederschuhe aus Lebensgewohnheit unbedingt zur notwendigen Ausstattung. Selbst die ärmste Person, ob Mann oder Frau, würde sich aus Selbstachtung scheuen, sich in der Öffentlichkeit ohne Schuhe zu zeigen.»[4] Armut ist somit bereits Smith zufolge nicht ohne Bezug zu den «Gewohnheiten des Landes» zu erfassen, in dem der arme Mensch lebt. Um nicht als arm zu gelten, muss eine Person über die Güter verfügen können, die in dieser Gesellschaft erforderlich sind, um Beschämung zu vermeiden und die Selbstachtung zu wahren.

Etwas mehr als hundert Jahre nach Smith unternahm Alfred Marshall, einer der führenden Ökonomen seiner Zeit und der akademische Lehrer von John M. Keynes, den Versuch, eine für seine Zeit gültige Armutsgrenze zu bestimmen. In seinem für die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre höchst einflussreichen Werk «Principles of Economics» beschreibt er «den notwendige(n) Existenzbedarf eines gewöhnlichen Landarbeiters oder ungelernten städtischen Taglöhners und seiner Familie» im damaligen England. Er besteht «aus einer guten Wohnung mit mehreren Zimmern, aus warmer Bekleidung mit etwas Wechsel in Unterkleidern, frischem Wasser, reichlicher Getreidenahrung, mäßig viel Milch, Fleisch, ein wenig Tee etc. und etwas Bildung und Erholung; schließlich ist erforderlich, daß die Arbeit seiner Frau genügend Zeit lässt, um ihr die ordentliche Erfüllung ihrer Pflichten als Mutter und Gattin zu ermöglichen».[5] Marshall sucht hier ein Existenzminimum zu beschreiben, bei dessen Unterschreitung die Leistungsfähigkeit von Arbeitern in derselben Weise leidet «wie die eines Pferdes, das nicht sorgfältig gepflegt wird, oder einer Dampfmaschine, welche ungenügend gespeist wird». Aber er bezieht sich eindeutig auf das Wohlfahrtsniveau, das am Ende des 19. Jahrhunderts bereits erreicht war. Tee war zu Zeiten von Adam Smith noch ein Konsumgut für gehobene Kreise. Auch erfasst Marshall mit «etwas Bildung und Erholung» bereits Bedürfnisse, die nicht der physischen Existenzsicherung dienen, sondern, in heutiger Begrifflichkeit, auf gesellschaftliche Teilhabe zielen.

Wenn aber bereits in der Frühzeit der Industrialisierung und

Cover1
Titel3
Zum Buch272
Über den Autor272
Impressum4
Inhalt5
1. Warum dieses Buch? Vorwort9
2. Was bedeutet Armut in Deutschland?13
Der Vergleich mit der Dritten Welt führt in die Irre13
Ohne Statistik geht es nicht: Was bedeuten Armut und Armutsrisiko in Deutschland?19
Methodische Entscheidungen und normative Setzungen22
Ungleichheit und Armut27
3. Der eindeutige Trend: Die Einkommensungleichheit hat zugenommen30
Armutsrisiko: Entwicklung seit der Wiedervereinigung30
Wer sind die Hauptrisikogruppen?34
Ost und West: Bricht Deutschland auseinander?38
Der ergänzende Blick: Materielle Entbehrung41
4. Armut in einem reichen Land – Ein Skandal?45
Armutsrisiko oder Armut – egal?46
Arme Studenten?47
Das Verwechselspiel zwischen absoluter und relativer Armut50
Ein Blick über die Grenzen53
Was wäre, wenn …?54
5. Hartz IV – Armut per Gesetz?58
Grundsicherungsbezug – der andere Armutsindikator60
Grundsicherung in der Sozialen Marktwirtschaft63
Teilhabe als Verfassungsanspruch65
Hartz IV fair berechnen68
6. Hartz IV – Arm trotz Arbeit?75
Wie es zu Hartz IV kam …75
… und was Hartz IV auslöste78
Auch Arme können rechnen: Der Sinn der Aufstockerregelung85
Kinderzuschlag weiterentwickeln88
Arm trotz Arbeit?89
7. Zerfällt die Mittelschicht?93
«Die Mitte» – wer ist gemeint?93
Entwicklung seit der Wiedervereinigung95
Pyramide oder Zwiebel?101
8. Altersarmut107
Rückkehr der Altersarmut?107
Rentenpolitik – Treibsatz111
Unverzichtbar: Grundsicherung im Alter117
Riestern für Arme?120
Kinderreichtum – Altersarmut?125
9. Armut macht krank128
Der irritierende Befund128
Untaugliche Erklärungsversuche133
Wo aber ansetzen?135
Die draußen stehen: Wohnungslose und Menschen in der Illegalität138
10. Bildungsarmut ist (kein) Schicksal143
Zwillinge: Geringe Qualifikation und Armutsrisiko143
«Vererbtes» Armutsrisiko144
Bildungssystem: Fern von den Bildungsfernen?146
Kooperation vor Ort macht einen Unterschied151
Nur die Spitze des Eisbergs153
Kultusminister: Nichtwissen schützt vor Ärger155
11. Menschen am Rande: Chancen auf Arbeit?159
Die gute Nachricht: Die Arbeit geht uns nicht aus159
Die primäre ethische Verpflichtung: Arbeit ermöglichen162
Der harte Kern der Langzeitarbeitslosigkeit166
Fördern in praxisfernen Parallelwelten?169
12. Wie der Sozialstaat sich selbst im Weg steht175
Hilfe: gut – Prävention: nicht ausreichend175
Hilfen müssen früh ansetzen: Überwindung von Systemgrenzen178
Hilfen zur Erziehung und danach182
Volljährig, aber weiterhin nicht erwachsen185
Hilfen wirklich aus einer Hand?189
13. Flüchtlinge: Armut droht, wenn die Integration scheitert193
Die Herausforderung193
Wettrennen um günstige Wohnungen?195
Arbeitsmarkt: Verschärfte Konkurrenz unten?198
Anstieg der Armut?204
14. Stückwerk für eine Sozialpolitik der Befähigung207
Teilhabe als Verfassungsrecht207
Keine Gerechtigkeit ohne Befähigung208
Befähigung: Stückwerk der reformerischen Alltagsarbeit214
15. Es gibt unendlich viel zu tun220
Grundsicherung weiterentwickeln, vorgelagerte Sicherung stärken220
Wie finanzieren wir die Armutsbekämpfung?222
Befähigende Bildungs- und Sozialpolitik224
Öffentliche Verantwortung für eine Teilhabe fördernde Infrastruktur227
Recht haben und Recht bekommen230
Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft231
Soziale Spaltung der Wahlbeteiligung233
Willkommen für die Unterschicht235
Aber ist das nicht alles Klein-Klein?237
Danksagung241
Anmerkungen243
Literaturverzeichnis255
Register268