Der Vergleich mit der Dritten Welt führt in die Irre
Was bedeutet Armut in Deutschland? Ist es überhaupt sinnvoll, von Armut zu sprechen angesichts wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse, die Welten entfernt liegen von dem Leben in Hunger und Elend, dem ein Teil der Weltbevölkerung weiterhin ausgesetzt ist? Gemessen am Armutsbegriff der Vereinten Nationen gibt es keine Armut in Deutschland. In der Terminologie der Vereinten Nationen sowie der Weltbank, welche die wirtschaftliche Lage von Haushalten in nahezu allen Entwicklungsländern erforschen ließ, lebt in extremer Armut, wer sein Leben mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag fristen muss. Dieser Wert ist abgeleitet aus den nationalen Armutsschwellen der ärmsten Entwicklungsländer.[1] Wer unter diesem Niveau lebt, gilt auch in den ärmsten Ländern der Erde als arm. Arm zu sein bedeutet dort, unter Bedingungen zu leben, in denen die physische Existenz bedroht ist. Da in politischen Debatten immer wieder der Eindruck vermittelt wird, die Armut nehme weltweit zu, sei hier darauf hingewiesen: Die so gemessene Armut ist seit 1990 deutlich zurückgegangen. Der Anteil der Bevölkerung in extremer Armut in den Entwicklungsländern ist von 1990 bis 2015 von 47 % auf 14 % gesunken.[2] Es gibt also weltweit Fortschritte, wenn auch gemessen an einer bescheidenen Zielmarke. Die boomende wirtschaftliche Entwicklung in China und Indien hat dazu beigetragen, die extreme Armut dort zurückzudrängen. Aber auch heute leben mehr als 800 Millionen Menschen in extremer Armut. Abgekoppelt von jeder Besserung der Lebensverhältnisse sind vor allem die Menschen, die in Ländern mit Bürgerkrieg und massiver politischer Gewalt leben.[3]
In der deutschen Armutsdebatte gibt es immer wieder Versuche, unter Verweis auf extreme Armut in Entwicklungsländern die Kategorie «Armut» für Lebenslagen in prosperierenden Industrieländern grundsätzlich zurückzuweisen. Das hieße aber, Armut ohne jeglichen Bezug zum Wohlstandsniveau einer Gesellschaft definieren zu wollen. Oberhalb dessen, was zum unmittelbaren Erhalt der physischen Existenz auf unterstem Niveau erforderlich ist, lässt sich das, was als Minimum für den Lebensunterhalt angesehen wird, nicht ohne Bezug zu den Verhältnissen der jeweiligen Gesellschaft definieren.
Das betonte bereits der Gründungsvater der modernen Volkswirtschaftslehre, der schottische Moralphilosoph Adam Smith, in seinem Hauptwerk «Der Wohlstand der Nationen». Das Werk erschien erstmals 1776, zur Zeit der frühen Industrialisierung in England, die von materieller Entbehrung geprägt war. Es wäre damals weit naheliegender gewesen als heute, Armut als Mangel allein an existenznotwendigen Gütern zu fassen. «Unter lebenswichtigen Gütern», so Smith, «verstehe ich nicht nur solche, die unerlässlich zum Erhalt des Lebens sind, sondern auch Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte. Ein Leinenhemd ist beispielsweise, genau genommen, nicht unbedingt zum Leben notwendig. Griechen und Römer lebten, wie ich glaube, sehr bequem und behaglich, obwohl sie Leinen noch nicht kannten. Doch heutzutage würde sich weithin in Europa jeder achtbare Tagelöhner schämen, wenn er in der Öffentlichkeit ohne Leinenhemd erscheinen müsste. Denn eine solche Armut würde als schimpflich gelten … Ebenso gehören heute in England Lederschuhe aus Lebensgewohnheit unbedingt zur notwendigen Ausstattung. Selbst die ärmste Person, ob Mann oder Frau, würde sich aus Selbstachtung scheuen, sich in der Öffentlichkeit ohne Schuhe zu zeigen.»[4] Armut ist somit bereits Smith zufolge nicht ohne Bezug zu den «Gewohnheiten des Landes» zu erfassen, in dem der arme Mensch lebt. Um nicht als arm zu gelten, muss eine Person über die Güter verfügen können, die in dieser Gesellschaft erforderlich sind, um Beschämung zu vermeiden und die Selbstachtung zu wahren.
Etwas mehr als hundert Jahre nach Smith unternahm Alfred Marshall, einer der führenden Ökonomen seiner Zeit und der akademische Lehrer von John M. Keynes, den Versuch, eine für seine Zeit gültige Armutsgrenze zu bestimmen. In seinem für die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre höchst einflussreichen Werk «Principles of Economics» beschreibt er «den notwendige(n) Existenzbedarf eines gewöhnlichen Landarbeiters oder ungelernten städtischen Taglöhners und seiner Familie» im damaligen England. Er besteht «aus einer guten Wohnung mit mehreren Zimmern, aus warmer Bekleidung mit etwas Wechsel in Unterkleidern, frischem Wasser, reichlicher Getreidenahrung, mäßig viel Milch, Fleisch, ein wenig Tee etc. und etwas Bildung und Erholung; schließlich ist erforderlich, daß die Arbeit seiner Frau genügend Zeit lässt, um ihr die ordentliche Erfüllung ihrer Pflichten als Mutter und Gattin zu ermöglichen».[5] Marshall sucht hier ein Existenzminimum zu beschreiben, bei dessen Unterschreitung die Leistungsfähigkeit von Arbeitern in derselben Weise leidet «wie die eines Pferdes, das nicht sorgfältig gepflegt wird, oder einer Dampfmaschine, welche ungenügend gespeist wird». Aber er bezieht sich eindeutig auf das Wohlfahrtsniveau, das am Ende des 19. Jahrhunderts bereits erreicht war. Tee war zu Zeiten von Adam Smith noch ein Konsumgut für gehobene Kreise. Auch erfasst Marshall mit «etwas Bildung und Erholung» bereits Bedürfnisse, die nicht der physischen Existenzsicherung dienen, sondern, in heutiger Begrifflichkeit, auf gesellschaftliche Teilhabe zielen.
Wenn aber bereits in der Frühzeit der Industrialisierung und