2| Gräber ausheben
Der gebrechliche alte Mann streckte die Hand nach seinem Sohn aus. Voller Tränen ergriff Graham sanft die zitternden, faltigen Hände seines Vaters, der vor ihm im Sterben lag. Er spürte, dass sie sich jetzt so nah waren wie nie zuvor.
Graham versicherte ihm, dass er es so machen würde, wie sie es besprochen hatten. Er würde das Gewehr zu allen Zeiten bei sich tragen. Mit ersticktem, rasselnden Husten erinnerte ihn sein Vater daran, dass Gott für ihn nicht vorgesehen hatte, sich das Leben zu nehmen. Das würde nur seelenloses Umherirren im Jenseits bedeuten. Zudem würde er nie wieder eins mit seiner verstorbenen Familie werden können.
Er hatte die Zeichen in jüngster Zeit zu oft gesehen und wusste, dass das Ende seines Vaters nah war. Verzweiflung breitete sich in ihm aus, denn diesmal würde er allein zurückbleiben, ohne auch nur eine einzige vertraute Seele auf der Welt. Der keuchende, pfeifende Atem seines Vaters wurde kürzer, der Blick starr, und das Gesicht sank in sich zusammen. Grahams Verzweiflung über den bevorstehenden Verlust des Vaters wich dem Gebet um Gnade und ein schnelles Ende. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie sein Vater sich quälte. So wie sich auch diejenigen gequält hatten, die nun unter der Erde lagen. Einer nach dem anderen waren sie voller Schmerz und Trauer gestorben.
Graham konnte einfach nicht begreifen, weshalb ausgerechnet er noch lebte. Hilflos hatte er mitansehen müssen, wie seine Frau Nelly starb und ihr ungeborenes Kind mit sich nahm. Dann hatte ihn seine geliebte Mutter verlassen, gefolgt von seiner Schwester und seiner vier Jahre alten Nichte. Und nun sein Vater.
»Was soll ich ohne dich tun?«, fragte Graham.
Sein Vater antwortete langsam: »Mache das, was ich dir beigebracht habe. Triff gute Entscheidungen auf deinem Weg und bereue nichts. Du wirst es schaffen. Und du sollst immer wissen: Ich bin stolz auf dich.«
Graham wischte den Speichel von den Lippen seines Vaters und hielt seine Hand.
Als der Tod endlich kam, wurde sein Vater ganz ruhig und sagte ein letztes Mal: »Ich liebe dich, mein Sohn.«
Abgrundtief erschöpft von seiner schier endlosen Wacht rieb sich Graham das Gesicht. Vor Frust, Angst und Trauer liefen ihm die Tränen über seinen hellbraunen Backenbart. Er hatte sich nicht mehr rasiert, seit die Welt zusammengebrochen war, und es war ihm egal, ob er sich jemals wieder rasieren würde. Nahrung und sogar die Luft, die er zum Atmen brauchte, hatten jegliche Bedeutung für ihn verloren. Er hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte ohne die Kraft und Orientierung, die ihm sein Vater gegeben hatte. Er weinte um ihn, wie er um die anderen vor ihm geweint hatte.
Nach dem allerletzten, rasselnden Schluchzen seines Vaters holte Graham tief Luft. »Reiß dich zusammen«, hätte sein Vater streng gesagt. Er beschloss, sich daran zu halten. Jetzt war er das Oberhaupt des Clans, und er würde weitermachen, als ob noch eine Familie existierte, die es zu beschützen galt.
Auch wenn es diesmal so schwer werden würde wie nie zuvor – er musste nur noch ein letztes Grab auszuheben. Es war ein schwacher Trost, aber für den Moment musste er genügen. Alle, die er jemals gekannt hatte, lebten nicht mehr: seine komplette Familie, alle Freunde, alle Bekannten. Vom einfachen Bettler bis zum reichsten Konzernlenker war keine soziale Schicht verschont worden. Sogar der Präsident war gestorben. Diese Pandemie praktizierte wahrhaft Chancengleichheit. Rassismus oder die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Schichten ließ sich ihr jedenfalls nicht vorwerfen.
Nur das schattige Morgenlicht leuchtete über ihnen, als sich Graham über die blau geäderten Augen des Mannes beugte, den er liebte und bewunderte. Dann schloss er diese Augen für immer.
»Auf Wiedersehen, Dad«, flüsterte er und küsste ihn auf die Stirn. Mit geübten Bewegungen wickelte er die Ränder des weißen Bettlakens langsam um den Körper seines Vaters. Dann verließ er leise das Zimmer.
***
Sein Vater hatte Graham um einen Platz zwischen den anderen vier Gräbern im preisgekrönten Rhododendrongarten seiner Mutter gebeten. Auf der einen Seite lagen seine Mutter und Nelly, auf der anderen seine Schwester und seine Nichte. So hatte es sein Vater gewollt, »zum Schutze der Ladys«, wie er gesagt hatte. Graham war von Anfang an klar gewesen, dass sein Vater, der immer ein Gentleman gewesen war, bis zum Ende durchhalten und sich erst nach den Damen des Hauses verabschieden würde.
Jetzt im Oktober ließ es sich im weichen Lehmboden noch leicht graben, aber bald würde es kalt werden. Der herbstliche Regen war oft dicht und lang anhaltend, doch an diesem Morgen regnete es in Ströme