Einleitung oder das biografische Problem
Tassilo III. muss eine ganz außerordentliche Persönlichkeit gewesen sein, wenn es der Überlieferung, die zum Großteil die des feindlichen Vetters Karls des Großen ist, nicht gelingt, seine Gestalt hinter einer Wand von Vorwürfen und Vorurteilen verschwinden zu lassen. Auch sind die Quellen nicht alle so wortkarg wie etwa die ältesten Salzburger Annalen, die sogar über die Katastrophe von 788 nur mit den sechs WörternTassilo tonsus est et captus Tassilo, »Tassilo wurde geschoren und gefangen (wurde) Tassilo«, berichten. Tatsächlich hat die Überlieferung auch andere, dramatischere Aussagen zu bieten, von denen hier einige vorweg genommen werden sollen. Tassilo beherrschte 40 Jahre lang, von 748 bis 788, ein königliches Fürstentum Bayern, das die Zeitgenossen ein Regnum nannten. Er galt den Bayern als »unser höchster Fürst«, nachdem er 763 seinem Onkel Pippin, dem mächtigen Frankenkönig, die Treue aufgesagt hatte und dennoch unbehelligt geblieben war. Er wurde als ein neuer Konstantin der Große gefeiert, als er 772 den hartnäckigsten Aufstand der heidnischen Karantanen niederwarf. All das waren Taten, die Zeitgenossen bewerteten, meist ohne lange über Motive zu berichten. Wenn dies aber geschieht, stammen Tassilos Beweggründe von seinen Gegnern.
Als er 787 auf dem Lechfeld vor Karl dem Großen kapitulieren und eine vasallitische Bindung eingehen musste, hat ihm diese Demütigung, heißt es, das Leben unerträglich gemacht. Danach wollte er zehn Söhne und nicht bloß seinen vergeiselten ältesten Sohn Theodo verlieren, bevor er die Abmachungen mit dem fränkischen Vetter einhielte. Als in Ingelheim die Katastrophe über ihn hereinbrach, soll er selbst seine Mönchung als Konfliktlösung vorgeschlagen, aber gebeten haben, den Rechtsakt nicht vor der Reichsversammlung zu vollziehen. Und nach seinem Sturz war Tassilo für Karl den Großen »der bösartige Mensch, unser Blutsverwandter, der uns das Herzogtum Bayern treulos entzogen hatte«.
Der zu Jahresende 741 geborene Bayernherzog Tassilo III. war ein Agilolfinger, und er wusste auch, dass er diesem Geschlecht angehörte. Es galt wie das der königlichen Merowinger als einegens, als eine militärisch-politische Gemeinschaft, die einem Volk gleichwertig war. Beides kam auf dem europäischen Kontinent nicht häufig vor. Geschlechternamen wurden für gewöhnlich nach einem Spitzenahnen gebildet und zumeist als Fremdbezeichnungen verwendet. Nur selten sind sie auch schriftlich überlieferte Selbstbezeichnungen geworden. In diesen Fällen handelte es sich zumeist um hochrangige Königsfamilien, wie die vandalischen Hasdingen Geiserichs, die fränkischen Merowinger Chlodwigs, die gotischen Balthen Alarichs I. und wahrlich nicht zuletzt die gotischen Amaler Theoderichs des Großen, der für die bayerischen Ursprünge von großer Bedeutung war. In dessen überlangen Stammbaum nimmt nach drei Götternamen ein Amal den vierten Platz als Spitzenahn des Geschlechts ein, »von dem sich die Herkunft der Amaler herleitet«. Obwohl für Tassilo kein vergleichbarer Stammbaum bekannt ist, darf man mit Sicherheit annehmen, dass ein Agilulf der Spitzenahn der Agilolfinger war. Da es mehrere historische Träger des Namens gab, wurden zahlreiche »originalistische« Versuche unternommen, einen von ihnen als Ahnherrn der Agilolfinger zu bestimmen. Abgesehen davon, dass die dabei entworfenen Theorien und Hypothesen einander aufheben, lässt si