I.
AUF DEM LETZTEN FOTO aus dem November trage ich eine Jeansjacke, einen Polopullover und eine Hose von der Art, die Stella Slacks nennt. Halbschuhe, über der Schulter eine Filztasche. Wenn meine älteste Freundin das Bild sähe, würde sie annehmen, dass ich das Übliche wiege, ein paar Kilo mehr als fünfzig. Ich selbst fühle mich aufgeschwemmt. Seit ich im letzten Herbst die Tore zum Gelände der Hochschule passierte, ist mein Gesicht voller geworden. Auch der Hals erscheint mir voller, was aber auch an dem Polokragen liegen könnte. Meine Augenbrauen sind zwei breite Pinselstriche, die Lippen geschlossen. Der Mund lässt mich beherrscht aussehen – oder »reserviert«, wie Dimos sagt. Auf dem Foto schreibe ich in ein Heft, das ich auf meinen Oberschenkel presse. Der Körper dreht sich zur Seite, es gibt viele und eigenartige Schatten, weil das Licht aus verschiedenen Quellen kommt – Straßenlaternen und Schaufenster, vielleicht ein Scheinwerfer. Unter der Aufnahme hat jemand notiert:gehbehindert.
Ich wurde Maria getauft. So steht es in dem Ausweis, den ich auf das Regal in Dimos’ Kochnische gelegt habe. Laut Pass bin ich dreiundzwanzig. Vor ein paar Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein würde, so alt zu sein; jetzt studiere ich bereits im letzten Studienjahr Architektur. Nur die Examensarbeit steht noch aus. In ihr soll es um Mehrfamilienhäuser in urbaner Umgebung gehen, aber ich bin nicht besonders weit gekommen. Ich weiß nicht, ob ich Bauingenieurin, Landschaftsarchitektin oder einfach Architektin werde. Ich vermute, einfach Architektin; zumindest würde ich mir das wünschen. Als ich klein war, wurde ich Tochter oder Marienkäfer genannt, gelegentlich auch Poliomädchen – die Krankheit erklärt mein Hinken. Ich wurde auch mit anderen Namen gerufen, habe aber nicht vor, hier auf sie einzugehen. Dimos nennt mich Mary. Von nun an werde ich so heißen.
Mary. Die Reservierte.
AUF DEM BILD sind die Nieten über der linken Brusttasche der Jacke nicht zu sehen. Ich drückte sie nach dem Arztbesuch fest – manchmal bin ich abergläubisch. Es ist seltsam, aber erfüllt von sanftester Sorge habe ich gleichzeitig das Gefühl, eine Sonne im Unterleib zu tragen, zitternd wie eine geballte Faust Jubel.
ALS ICH AUFWACHE, ist es sieben Uhr abends. Eigentlich hatte ich nicht vor zu schlafen, nachdem ich von der Ärztin zurückkehrte, war mein Körper jedoch schwer wie feuchte Erde, der Kopf leicht wie Äther. Es reichte, mich auf das Bett zu legen, schon war ich weg.
Nun merke ich, dass der Schlaf traumlos gewesen ist, fast erinnerungslos, als hätte sich der Körper von seinem Auftrag ausruhen müssen, ein Mensch zu sein. Dimos’ Seite des Betts ist leer. Seit dem letzten Mittwoch ist mein Freund in der Hochschule. Heute Morgen kam er kurz nach Hause, um zu duschen und ein paar Sachen zu holen. Er wusste, dass ich nach dem Mittagessen zum Arzt wollte, ist aber noch in dem Glauben, der Grund dafür wären meine Gliederschmerzen. Wenn wir uns sehen, werde ich es ihm erzählen. An der Decke dreht sich träge, doch systematisch der Ventilator. Obwohl es Herbst geworden ist, sind die Tage heiß, nicht zuletzt in diesem Backofen von einer Wohnung. Wenn ich lange genug die Luft anhalte, bilden sich am Haaransatz Schweißperlen. Kurz danach formen sie einen Tropfen, der groß genug ist, um über die Schläfe zu rinnen. Er gleitet am Ohr entlang, kitzelt ein wenig und verschwindet in den Nackenhaaren.
Das Rinnsal erinnert mich an das Bild, das ich vor ein paar Tagen in der Zeitung sah, nach meinem ersten Besuch in der Arztpraxis, als ich nur eine Urinprobe abgab. Ein Junge saß darauf mit einer Decke um die Schultern und weit aufgerissenen Augen, Tränen hatten Furchen in sein unfassbar schmutziges Gesicht gegraben. Die Wangen glichen einer verwüsteten Flusslandschaft. In den Armen hielt er einen rußigen Klumpen. Erst als ich die Bildunterschrift la