1. KAPITEL
Es war einmal eine schöne und kluge Königin, die lebte in einem Land auf der anderen Seite der Welt. Man nannte sie Ravenhair …
Aus „Queen Ravenhair“
London, England
Oktober 1737
Die Tochter eines Dukes lernt bereits früh im Leben das angemessene Verhalten in beinahe jeder Situation. Auf welcher Platte man geröstete Lerchen servierte. Wann man eine nicht ganz salonfähige Dowager Countess grüßte und bei welcher Gelegenheit man sie schnitt. Was man trug, wenn man in einem Boot die Themse hinabfuhr, und wie man die Avancen eines leicht angetrunkenen Earls mit geringem Einkommen nach einem Picknick abwehrte.
Eigentlich alles, dachte Lady Hero Batten trocken, nur wie man einen Gentleman ansprach, der sich gerade leidenschaftlich mit einer Dame vergnügte, die nicht seine Frau war, das nicht.
„Ähem“, versuchte sie es, während sie die Stuckornamente an der Decke über sich fixierte.
Die beiden auf dem Sofa schienen sie nicht zu hören. Stattdessen gab die Dame aus den Tiefen ihres scheußlichen rotbraun gestreiften Kleides, dessen Röcke man ihr über den Kopf gestülpt hatte, ein paar schrille Schreie von sich.
Hero seufzte. Sie befand sich in einem schummrigen Salon hinter der Bibliothek von Mandeville House und bedauerte es, dass sie sich ausgerechnet diesen Raum ausgesucht hatte, um ihren Strumpf zu richten. Hätte sie den blauen Orientalischen Salon gewählt, säße ihr Strumpf nun tadellos, und sie wäre längst wieder im Ballsaal – und hätte mit dieser peinlichen Situation nichts zu tun.
Vorsichtig senkte sie den Blick. Der Gentleman trug eine unauffällige weiße Perücke, hatte seinen bestickten Gehrock aus Satin beiseite geworfen und mühte sich in Hemd und einer smaragdgrünen Weste über der Dame ab. Seine Breeches und seine Unterwäsche hatte er bis zu den Knien heruntergezogen, um sich sein Vorhaben leichter zu machen, und immer wieder wurde eine muskulöse Pobacke sichtbar.
Unanständigerweise fand Hero den Anblick faszinierend. Wer dieser Gentleman auch sein mochte, sein Körper war recht … erstaunlich.
Sie riss ihren Blick fort, um sehnsüchtig zur Tür zu blicken. Tatsächlich würden es ihr nur wenige verdenken, wenn sie sich diskret umdrehte und auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schliche. Genau das hätte sie auch getan, als sie den Salon betreten und das Geschehen dort entdeckt hatte, wäre sie nicht zwei Minuten zuvor Lord Pimbroke im Gang begegnet. Denn wie der Zufall so spielte, hatte Hero das scheußliche rot-braun gestreifte Kleid früher an diesem Abend an Lady Pimbroke bemerkt.
Wenn Hero sich auch ungern einer peinlichen Lage aussetzte, so waren ihre eigenen Gefühle letztlich nicht so bedeutend wie ein mögliches Duell und die daraus folgende Verletzung oder gar der Tod eines der Kontrahenten.
Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war, nickte Hero, nahm einen ihrer Diamantohrringe ab und zielte auf das Gesäß des Gentlemans. Insgeheim war sie im