1. KAPITEL
Wieder zog ein stechender Schmerz durch Octavia Ferrantes Unterleib. Ihr Bauch krampfte sich so heftig zusammen, dass es ihr den Atem verschlug.
„Bitte ruf Alessandro an“, flehte sie keuchend und ballte die Hände zu Fäusten, um sich gegen die nächste Wehe zu wappnen. Sie bekam allmählich Angst, dass etwas nicht in Ordnung war und sie nie wieder Alessandros Stimme hören würde.
Der Cousin ihres Mannes, Primo Ferrante, seufzte nur desinteressiert. Er ließ den Vorhang los, wandte den Blick vom Fenster und drehte sich zu ihr um. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass er erst kommt, wenn das Baby auf der Welt ist. Vorher lohnt es die Mühe nicht.“
Octavia weigerte sich, das zu glauben. Primo schien es täglich mehr Vergnügen zu bereiten, sie zu quälen. Sie traute ihm schon längst nicht mehr über den Weg. Vermutlich spielte er nur wieder eins seiner perfiden Spielchen mit ihr.
Nach all den zermürbenden Monaten in ihrem Londoner Exil nahm sie ihm jedoch zumindest einen Teil seiner Behauptungen ab. Er hatte zum Beispiel völlig recht damit, ihre Intelligenz infrage zu stellen. Sie hatte zugelassen, dass ihr Leben ihr völlig entglitt. Schon seltsam, so eine Schwangerschaft. Man wurde graduell immer verletzlicher, merkte das jedoch erst, wenn man kämpfen musste und feststellte, dass einem die Kraft dazu fehlte. Sie war so damit beschäftigt gewesen, nach Alessandros Zurückweisung ihre Wunden zu lecken, dass sie keine Reserven mehr übrig hatte.
Und sie hatte niemanden, der ihr half.
Zu rebellieren hatte sich für Octavia noch nie bezahlt gemacht, sodass sie nur selten gegen jemanden aufbegehrte, aber so hilflos und ohnmächtig wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt. Eigentlich hatte sie sich für selbstbewusster gehalten. In den ersten Wochen ihrer Ehe hatte sie fast so etwas wie Stolz empfun…
Eine weitere Wehe schien Octavia innerlich zu zerreißen. Sie biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei.
Alessandro! flehte sie stumm, während ihr der Schweiß ausbrach. War er wirklich nur daran interessiert, dass sie ihm einen Sohn schenkte? Vielleicht hatte Primo ja recht, dass Alessandro sich ansonsten überhaupt nicht für sie interessierte.
Dann ruf meine Mutter an! hätte sie bei der nächsten Wehe fast zu Primo gesagt, doch ihre Mutter befand sich wie Alessandro in Italien. Außerdem würde sie wahrscheinlich noch weniger Mitgefühl zeigen als Primo. Acht Mal hatte sie das hier durchgemacht, sieben Mal davon völlig umsonst. Genau genommen sogar acht Mal umsonst, da Octavia nicht wirklich zählte.
Schließlich war sie nur eine Frau. Eine Frau, deren einzige Existenzberechtigung darin bestand, Kinder zu gebären …
Octavia hatte ihr ganzes Leben lang Angst davor gehabt, eines Tages so leiden zu müssen wie ihre Mutter – Babys zu verlieren, bevor sie sie zur Welt bringen konnte. Und offensichtlich aus gutem Grund: Das hier war nicht das schöne natürliche Ereignis, das in den Büchern immer beschrieben wurde. Das hier war Folter. Das Baby kam einen Monat zu früh, und der Schmerz war unerträglich. Irgendetwas stimmte nicht, das wusste Octavia genau.
„Wo bleibt der Krankenwagen?“, stieß sie hervor, als der Schmerz genug nachließ, um etwas Luft zu schöpfen. „In der Klinik hat man mich gebeten, sofort anzurufen, sobald die Wehen kommen. Hast du dort Bescheid gesagt?“
„Du bist ja völlig hysterisch. Eine Geburt dauert Stunden, das weißt du genau“, erwiderte Primo.
Er hatte ihr versprochen, die Klinik zu informieren, aber anscheinend hatte er sein Versprechen nicht gehalten.
„Gib mir das Telefon“, verlangte sie und streckte eine Hand aus. Was machte Primo überhaupt hier? Wo war Alessandro?
Ihre Wehen folgten jetzt Schlag auf Schlag. Sie schlang die Arme um ihren geschwollenen Bauch, als wolle sie ihn davor schützen zu zerplatzen. „Bitte Primo, ich flehe dich an. Bring mich ins Krankenhaus.“
„Du machst dem Namen unserer Familie Schande.“ Voller Verachtung sah er in ihr verschwitztes, tränenüberströmtes Gesicht. „Wo ist dein Stolz auf dein Pflichtgefühl? Zeig gefälligst etwas Würde.“
Die groben Worte dieses grausamen Mannes, den sie von ganzem Herzen hasste, hatten immer wieder die Macht, sie zu verletzen. Weil letztendlich Alessandro sie dieser unerträglichen Situation ausgeliefert hatte. Jedes Mal, wenn Primo sie mit seinen Worten quälte, fühlte sie sich von Alessandr