1. KAPITEL
Tolbooth-Gefängnis, Glasgow, Schottland, Juli 1810
Blackloch Hall?“ Sir Henry Allardyce schüttelte den Kopf. Sein dünnes weißes Haar wippte auf dem fast kahlen Kopf, auf dem sich die Adern abzeichneten. „Ich dachte, Mrs. Hunter hätte sich von ihrem Sohn entfremdet.“ Es zerriss Phoebe fast das Herz, wie besorgt er aussah, obwohl er selbst in einer feuchtkalten Kerkerzelle saß.
„So ist es auch, Papa. In all den Monaten, die ich schon als Gesellschafterin bei ihr lebe, habe ich noch nie gehört, dass sie selbst oder jemand anderes in ihrem Haus jemals seinen Namen erwähnt hätte.“
„Und warum hat sie dann plötzlich den Wunsch, ihn zu besuchen?“
„Wie du weißt, wurde in den vergangenen Monaten zweimal in der Charlotte Street eingebrochen. Beim letzten Mal haben sie alles komplett durchwühlt, ihre privaten Dinge durchstöbert … ihr Schlafzimmer, ihren Frisiertisch, sogar ihr …“
Phoebe hielt inne und schaute verlegen zur Seite. „Es genügt wohl zu sagen, dass nichts unberührt blieb.“ Sie runzelte die Stirn. „Der Schaden war nicht einmal besonders groß, aber Mrs. Hunter will trotzdem das ganze Haus neu herrichten lassen. So wie es jetzt ist, erinnert sie alles immer wieder daran, dass ihr Heim geschändet wurde. Dieses Ereignis hat ihr mehr zugesetzt, als sie zugeben würde, darum will sie eine Zeit lang fort von hier.“
„Und die Täter hat man nicht gefasst?“ Ihr Vater machte ein erschüttertes Gesicht.
„Wahrscheinlich wird man sie nie erwischen.“
„Wie weit ist es mit der Welt gekommen, wenn eine alleinstehende Witwe sich in ihren eigenen vier Wänden nicht sicher fühlen kann?“ Er schüttelte den Kopf. „Eine stolze, aber anständige Frau. Es war großzügig von ihr, dir heute den Besuch bei mir zu gestatten. Die meisten Damen hätten an ihrer Stelle darauf bestanden, dass du sie sofort nach Blackloch Hall begleitest.“
„Mrs. Hunter hat mir vor meinem Besuch noch einige Erledigungen in der Stadt aufgetragen.“ Phoebe lächelte. „Und sie hat mir das Fahrgeld für die Postkutsche nach Blackloch Moor gegeben, wo man mich von der Station abholen wird.“
„Na gut“, sagte er mit einem tiefen Seufzer.
„Sorge dich nicht, Papa. Mrs. Hunter meinte, Blackloch sei gar nicht so weit von Glasgow entfernt, nur etwa zwanzig Meilen. Darum ist sie einverstanden, dass ich dich weiterhin jede Woche besuchen komme. Wie du gesagt hast, ist sie wirklich eine gute und nette Dame, und ich kann mich glücklich schätzen, bei ihr zu arbeiten.“
Sie nahm seine alten Hände und rieb sie sanft, um ein wenig Wärme in die kalten, verkrümmten Finger zu bringen. „Sie erkundigt sich oft nach deinem Befinden.“
„Oh, Kind“, sagte er leise und Tränen traten in seine trüben Augen. „Ich wünschte, es wäre nie so weit gekommen. Nun bist du allein auf dich gestellt, musst dich ohne meine Hilfe durchs Leben schlagen. Und bist sogar gezwungen zu lügen, damit niemand erfährt, dass dein Vater im Gefängnis sitzt. Glaubt sie immer noch, dass ich im Krankenhaus liege?“
Phoebe nickte.
„Dabei muss es unbedingt bleiben. Trotz all ihrer Freundlichkeit würde sie dich auf der Stelle entlassen, wenn sie die Wahrheit wüsste. Um einen weiteren Skandal zu vermeiden, würde sie alles tun, die arme Frau. Sie hatte, weiß der Himmel, schon genug wegen ihres Sohnes zu ertragen.“
„Du weißt etwas über Mrs. Hunters Sohn? Was für ein Skandal?“
Er überlegte einen Moment und schaute zu einer dunklen Ecke seiner Zelle, wo sein zerlumpter Mithäftling zusammengekrümmt auf dem rauen Steinboden lag. Mehrere Sekunden vergingen, bis er Phoebe endlich wieder anschaute.
„Ich bin kein Mensch, der hinter ihrem Rücken über andere Menschen redet. Das ist eine Sünde und das Werk des Teufels, aber …“ Er stockte. Phoebe hatte den Eindruck, dass er um die passenden Worte rang. „Abe