EINLEITUNG
Die Öffnung der Gräber
Vergina (Nordgriechenland)
1977–1979
«Ruhe jetzt!», mahnte Manolis Andronikos seine Mitarbeiter, während er bedächtig eine ins Dunkel führende Öffnung erweiterte. Es war der 8. November 1977, nachmittags am Rande des Dorfes Vergina im nördlichen Griechenland, und Andronikos stand kurz davor, den großartigsten Fund in der modernen Geschichte der Archäologie im Ägäisraum zu machen.
Seit 25 Jahren leitete er Grabungen am großen Tumulus bei Vergina, einem 13 Meter hohen runden Hügel aus Sand, Erde und Schotter. Er hatte Tausende Tonnen Material bewegt, um herauszufinden, was darunter war. Nach seiner Überzeugung befand er sich dort, wo einst die antike Hauptstadt Makedoniens, Aigai, gelegen hatte – und an der Grabstätte von Makedoniens Königen. Er hatte auch diese Grabungssaison beinahe schon als ergebnislos abhaken wollen, als er unter einem noch unerkundeten Teil des Hügels auf die Mauern zweier Bauwerke stieß. Das eine hatte sich als bereits geplünderte Grabkammer mit prachtvollen Wandmalereien erwiesen; der Boden war übersät mit jenen menschlichen Überresten, welche die antiken Grabräuber zurückgelassen hatten. Doch neben dieser Grabkammer, unter einer sieben Meter dicken Erdschicht, war Andronikos auf die Decke eines zweiten Bauwerks gestoßen und nun im Begriff, über eine Leiter in diese Kammer hinabzusteigen.
Als er durch die Deckenöffnung verschwand, rief er seinen Assistenten einen außergewöhnlichen Befund hinauf: «Alles intakt!» Das Licht seiner Taschenlampe fiel auf glänzendes Silber und strich über das matte Grün oxydierter Bronze. Dutzende kostbarer Objekte, deren jedes ein Jahr Grabungsarbeit gerechtfertigt hätte, blitzten im Licht auf: Rüstungen und Waffen, die unverzichtbaren Utensilien eines jeden makedonischen Kriegers, lehnten an den Wänden und in den Ecken; am Boden lagen aufgehäuft fein ziselierte Trinkgefäße, und in der Mitte des Raumes fand Andronikos eine Marmorkammer, die mit einem Deckel verschlossen war. Als man sie später öffnete, sollten die Ausgräber darin zu ihrem Erstaunen eine exquisiteLarnax, eine kleine Truhe aus Gold entdecken, welche die Knochen eines erwachsenen Mannes enthielt, den man seinerzeit eingeäschert hatte. Eine ähnliche goldene Schatulle, in der sich die Überreste einer Frau im Alter von 20 bis 30 Jahren fanden, wurde in einer kleinen Nebenkammer entdeckt.
Am Boden der Grabkammer sah Andronikos zwischen den zerfallenen Resten der antiken hölzernen Liege, die sie einst geschmückt hatten, fünf aus Elfenbein geschnitzte Köpfe – am Ende sollte man noch neun weitere bergen. Diese meisterhaft ausgeführten Miniaturskulpturen bildeten eine Galerie männlicher Heroen, darunter zwei mit Bart und von ernster Ausstrahlung, während die anderen glattrasiert waren und zart und jugendlich wirkten (bei einigen nimmt man an, dass es sich um Frauen handeln könnte). Es ist frappierend, wie stark die Skulpturen das Wesen der Porträtierten zum Ausdruck bringen.
Auf der Grundlage der Keramikdatierung ließ sich die Entstehungszeit der Grabkammer auf den Zeitraum zwischen 350 und 315 v. Chr. eingrenzen, und so zögerte Andronikos nicht, einen der bärtigen Porträtierten al