: Ay?e Kulin
: Der schmale Pfad Nachwort von Jens Peter Laut. Roman. Türkische Bibliothek
: Unionsverlag
: 9783293302204
: 1
: CHF 10.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Journalistin Nevra Tuna steckt in einer privaten und beruflichen Krise. Ihre ganze Hoffnung setzt sie auf ein Interview mit der inhaftierten kurdischen Politikerin Zelha Bora, das ihre Karriere retten soll. Doch zwischen den beiden Frauen, deren Lebensverhältnisse unterschiedlicher nicht sein könnten, stehen nur Vorurteile und Vorwürfe. Kurz bevor das Gespräch zu scheitern droht, entdecken sie: In ihrer Kindheit waren die beiden engste Freundinnen. Nun versuchen sie, die vergangenen Jahre heraufzubeschwören und ungelöste Rätsel zu lösen. Letzten Endes ist es die wiedergefundene Freundschaft der beiden Frauen, die politische Gräben überbrückt.

Ayse Kulin, geboren 1941 in Istanbul, studierte Literaturwissenschaften. Während des ersten Militärputsches am 27. Mai 1960 war sie eine aktive Sozialdemokratin. In den Achtzigerjahren arbeitete sie als Redakteurin und Reporterin für diverse türkische Zeitungen und Zeitschriften. Einige Male wurde sie als 'Autorin des Jahres' ausgezeichnet, viele ihrer Erzählungen und Romane wurden verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Seit 2007 ist sie ehrenamtliche UNICEF-Botschafterin.

Nevra Tuna – Zeliha Bora


Trotz der warmen Luft aus dem Gebläse der Autoheizung ist mir, als krieche die trockene Kälte von draußen in mich hinein, als dringe sie mir tief ins Mark. Meine Hände und Füße fühlen sich an wie Eiszapfen, ich sitze kerzengerade und steif da, starre ins Leere, ohne das Geringste wahrzunehmen. Wortlos legen wir unseren Weg zurück, beide aufs Äußerste angespannt. Er bricht das Schweigen: »Wir sind gleich da! Es wäre gut, wenn du dich allmählich fertig machen würdest!«

Ich lege mir das große schwarze Kopftuch um und schiebe es bis zu den Augenbrauen herunter, dann ziehe ich es an den Enden zu und befestige es mit einer Sicherheitsnadel, sodass es knapp unter der Nase sitzt. Hasan Bey muss lachen: »Zieh dein Kopftuch doch weiter nach oben, sonst kannst du ja nichts sehen!« Unbeholfen zupfe ich daran herum, irgendwann sagt er dann: »Ja, so ist es gut! Steht dir sogar! Es hebt die Schönheit deiner Augen hervor.« »Ich kann mir überhaupt niemanden vorstellen, dem so ein Kopftuch stehen könnte.« »Ach, ich schon. Frauen mit schönen Augen und einer hässlichen Nase steht es ganz ausgezeichnet.« »Herzlichen Dank!« »Du weißt genauso gut wie ich, dass deine Nase nicht hässlich ist. Jetzt also bitte kein ›fishing for compliments‹ so früh am Morgen!«

Insgeheim bin ich zwar stinksauer, sage aber nichts mehr, weil ich es für unangebracht halte, mich mit einem Mann herumzustreiten, der mein Vater sein könnte und sich bemüht, mir zu helfen. Der Nebel, der in den frühen Morgenstunden besonders dicht war, löst sich allmählich auf. Mit dem Zipfel meines Kopftuches wische ich die beschlagene Scheibe auf meiner Seite ab. Wir fahren noch immer. »Mir gehts nicht gut, ich kriege keine Luft!« »Wieso, du hast dir doch nicht die Nase zugebunden?« »Ja, ja, trotzdem ersticke ich fast. Sicher seelisch bedingt. Könnten Sie bitte das Fenster ein bisschen aufmachen, damit frische Luft hereinkommt!« Er drückt einen Knopf und lässt die Scheibe halb herunter. Nun frösteln wir beide in der trockenen Kälte dieses winterlichen Morgens. »Sollen wir das Ganze noch einmal durchspielen?«, fragt Hasan Bey. »Ich stelle meine Fragen zügig und schweife nicht ab. Was ich mir nicht notieren kann, merke ich mir und schreibe es sofort in mein Heft, sobald ich wieder draußen bin. Sollten wir Hunger bekommen, essen wir die Kekse, die ich in meiner Tasche habe. Das Interview muss vor fünf beendet sein. Wenn irgendetwas schiefgeht, gebe ich niemandem irgendeine Erklärung und rufe Sie sofort auf dem Handy an.«

»Bedauerlicherweise wird das nicht möglich sein. Handys sind nicht erlaubt.« »Nicht doch! Und wenn etwas passiert?« »Es passiert schon nichts. Aber wenn doch, dann wendest du dich an Dilaver Bey!« »Und wer ist das?« »Ein alter Freund von mir. Von drinnen. Ich gebe dich in seine Obhut.« »Kann man ihm vertrauen?« »Hundertprozentig!« »Dann ist ja gut!« »Aber Kindchen, das Wichtigste hast du vergessen!« »Gewiss nicht. Niemand, aber auch absolut niemand darf von diesem Treffen wissen, außer Ihnen, mir und diesem – wie war doch gleich sein Name – Dilaver Bey?« »Richtig, sehr gut!« »Hasan Bey, ich werde nie vergessen, was Sie da für mich tun! Vielen, vielen Dank!« »Bete dafür, dass wir keinen Ärger bekommen!« »Es wird schon gut gehen … Es weiß ja keiner davon … außer uns.« »Die Wände haben Ohren!«, mahnt Hasan Bey besorgt. »Wenn das herauskommt, geht es dem Gefängnisdirektor an den Kragen.« »Keiner erfährt etwas davon«, entgegne ich und bemühe mich, dass meine Stimme nichts von meiner inneren Unruhe verrät. »Gl