Kapitel 1:
Das Elternhaus– Ort des Gedenkens
Nach dem Tod eines geliebten Menschen ist es wichtig, einen Ort für die eigene Trauer zu finden. Viele Hinterbliebene zieht es zum Grab, um dort Ruhe zu finden und an den Verstorbenen zu denken. Das Anzünden einer Kerze kann heilsam sein.
Viele erzählen auch, dass das Bepflanzen des Grabes ihnen hilft: die Blumen aussuchen, sorgfältig die Farben zusammenstellen, die Pflänzchen auf dem Grab anordnen. Manche empfinden diese praktische Arbeit mit den Händen als eine Art Meditation. Durch das Berühren der Erde, das Graben und Schaufeln kommen sie zu sich, verlieren sich nicht mehr in abschweifenden Gedanken. Sie können dem Toten durch die nützliche Beschäftigung nah sein, können so noch etwas Gutes für ihn tun, an seiner letzten Ruhestätte sein Andenken bewahren.
Meineältere Schwester beispielsweise nimmt sich mehrere Stunden Zeit, um in einer Gärtnerei die richtigen Pflanzen für das Doppelgrab unserer Eltern auszuwählen. Meistens kauft sie auch Stiefmütterchen in violetten Farbtönen, weil unsere Mutter genau diese Blumen so sehr mochte. Am Grab selbst verbringt sie dann mehrere Stunden, um die Farben zu komponieren, besondere Formen mit den Blumen zu bilden, zum Beispiel ein Herz. Diese kreative Arbeit mit den Händen verschafft ihr Trost. Sie besteht darauf, die Grabbepflanzung selbst zu machen. Einen Gärtner zu beauftragen kommt für sie nicht infrage.
Um den Verstorbenen zu gedenken, gehen andere wiederum an besondere Orte, die für die Verstorbenen von Bedeutung waren. Das kann eine Waldlichtung sein, eine Anhöhe mit alten Bäumen, ein Strand an der Ostsee. Es werden Orte wieder aufgesucht, an denen man gemeinsam glücklich war, intensive Gespräche führte und sich dem anderen eng verbunden fühlte.
Mir persönlich hilft der Besuch am Grab viel weniger als meiner Schwester. Im Gegenteil, der Friedhof war mir phasenweise richtiggehend verhasst. Dort wurde mir vor allem in den ersten Monaten nach dem Tod der Eltern der Verlust in seiner Härte wieder extrem deutlich. Ja, manchmal konnte ich es schlicht nicht ertragen, am Grab zu stehen. Mein Ort des Gedenkens ist ein Spaziergangüber einen Feldweg bei uns in der Nähe. Dort steht auf einer Wiese ein alter Mirabellenbaum. Immer wenn ich an seinem knorrigen Stamm vorbeigehe, denke ich an meinen Vater, wie er damals, schon vom Krebs gezeichnet, voll kindlicher Freude die gelben Früchte pflückte. Er konnte sich immer an kleinen Dingen erfreuen– das halte ich so in Erinnerung.
Wenn beide Eltern gestorben sind, spielen auch das Haus beziehungsweise die Wohnung der Eltern eine große Rolle. Sie können ein Erinnerungsort werden, denn sie bieten eine Rückzugsmöglichkeit für die Trauernden. Für die meisten Familien war die Wohnung oder das Haus jahrelang Zentrum ihres Lebens gewesen, war für die Kinder Treffpunkt und Konstante, vergleichbar mit einer Insel, auf der man im Fluss des Lebens andocken konnte. Hier war man in der Regel willkommen und erwünscht. Sicherlich handelte es sich nicht immer um einen Ort reiner Harmonie. In jeder Familie gibt es Höhen und Tiefen, Streit und Entfremdung, Verletzungen und Verfehlungen. Dennoch ist es für viele ein wichtiger Ort der Trauerverarbeitung. Die Eltern sind nicht mehr da, aber es existiert noch alles, was ihr Leben ausgemacht hat: ihre Bücher, ihre Bilder, ihre Möbel. Wie eine Aura, die weiterlebt.
Auch Barbara, eine meiner ersten Gesprächspartnerinnen, kehrt immer wieder in ihr Elternhaus zurück, um intensiv an ihre Mutter und vor allem ihren Vater zu denken.
Der grüne Ohrensessel als Erinnerungsort–Barbara
Barbara war 45 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Ihr Tod traf sie völlig unerwartet. Es war ein großer Schock, denn ohne jede Vorwarnung erlitt die Mutter einen Herzinfarkt. Mit ihren 69 Jahren war sie eine rüstige Oma und Mutter gewesen. Sie war schlank und bewegte sich gerne. Herzprobleme hatte sie keine gehabt– nur manchmal einen erhöhten Blutdruck. Zwei Tage vor ihrem Infarkt hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann noch eine Partie Tennis gespielt. Auch bei der Einschulungsfeier von Barbarasältestem Sohn eine Woche zuvor war sie noch dabei gewesen: hellwach und vital. Barbaras Mutter wollte an wichtigen Schritten im Leben ihrer Enkel teilhaben. Es war ein Samstag im Hochsommer, als es passierte. Hilflos musste Barbaras Vater mitansehen, wie seine Frau das Bewusstsein verlor. Als der Rettungswagen dann endlich kam, war sie längst nicht m