1. KAPITEL
Kathryn Roper sah sich unverhofft einem sehr gut aussehenden, sehr zornigen Mann gegenüber. Er war groß und gepflegt, und er sah zu jung aus für seine konservative Aufmachung. Der maßgeschneiderte graue Nadelstreifenanzug hätte zu ihrem Vater gepasst. Diesem Mann hingegen hätte ein sportliches Outfit besser gestanden, denn er besaß den Körper eines Athleten. Doch ihrer Erfahrung nach hatten Athleten einen schlechteren Geschmack in Kleidungsfragen.
„Stehen Sie nicht einfach so da und starren Sie mich nicht so an“, beschwerte er sich. „Ich bin um die halbe Welt geflogen und will sofort zu Miss Roper.“
Wenn sie auch zuerst daran gezweifelt hatte, dass dieser Mann Ron Egan war, so war das jetzt nicht mehr der Fall. Er besaß das anmaßende Auftreten eines Menschen, der nichts und niemanden für wichtig hielt außer sich selbst. „Ich bin Kathryn Roper, und ich gestatte keine Besuche nach halb zehn abends. Sie müssen morgen wiederkommen.“
Ein ärgerlicher Blick traf sie. „Sie sind zu jung und zu hübsch, um sich wie eine Furie aufzuführen.“
Sie konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Wer sagt denn, dass eine Furie alt und hässlich sein muss?“
Abschätzig musterte er sie. Wie alle hochgestellten Persönlichkeiten, die sie bisher kennengelernt hatte, versuchte er, andere einzuschüchtern, die er für unwichtig hielt.
Doch ihre Reaktion auf ihn war alles andere als üblich. Sie fühlte sich zu diesem Mann hingezogen. Sie hatte nie geleugnet, dass die Chemie zwischen zwei Menschen auf Anhieb stimmen konnte, aber es passierte ihr zum ersten Mal.
Wie schade, dass sein Äußeres so wundervoll war, während sein Wesen so verderbt zu sein schien.
Offensichtlich war sie ebenso leicht zu beeindrucken wie die Mädchen, die bei ihr Hilfe suchten, die sich von Äußerlichkeiten verführen ließen. Doch sie war älter, erfahrener und hatte ihre körperlichen Bedürfnisse fest unter Kontrolle. Sie mochte heftig auf Ron Egan reagieren, aber das sollte er nie merken.
„Ich will meine Tochter sehen. Wo ist sie?“
„Im Bett, wie auch die anderen Mädchen in diesem Haus. Sie können sie morgen früh sehen.“
„Ich bin extra aus Genf hergekommen. Ich habe nach Ihrem Anruf das nächste Flugzeug genommen und sechs Zeitzonen hinter mich gebracht. Ich bin müde. Es wird ihr nicht schaden, wenn sie eine halbe Stunde Schlaf versäumt.“
„Ich sorge mich weniger um ihren Schlaf als darum, dass Ihr Besuch sie aufregen wird. Es ist äußerst wichtig, dass sie ruhig bleibt. Die Situation ist ohnehin schon sehr stressgeladen für sie.“
Sie standen sich immer noch in der Eingangshalle gegenüber wie Feinde.
„Sie ist minderjährig“, wandte er ein. „Ich kann Sie zwingen, sie herauszugeben.“
„Sie ist aus freien Stücken hergekommen. Sie will bleiben. Wenn Ihnen an ihr liegt, dann gestatten Sie es ihr.“
Ron wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Seit dem Moment, als er telefonisch von einer Fremden erfahren hatte, dass seine Tochter schwanger und von zu Hause ausgerissen war, wusste er nicht mehr, was er denken sollte. Er hatte nicht erwartet, sie in einem eleganten alten Herrenhaus im Herzen des ältesten und vornehmsten Viertels von Charlotte untergebracht vorzufinden. Und auch Kathryn Roper entsprach nicht dem, was er sich vorgestellt hatte.
Sein erster Impuls war, sie zurechtzuweisen für die Unterstellung, dass ihm nichts an seiner Tochter lag. Wie konnte sie sich a