Kapitel 1
Wo der Wahn die Wirklichkeit regiert,
ist derWahnwirker König.
FORS STARKGEIST – UNTERDRÜCKERDER SCHWACHEN
UND PHILOSOPHDERTÄUSCHER
Die Nachwirkungen ihres letzten Auftrags zwangen sie nach Westen. Dem Gesetz einen immer kürzer werdenden Schritt voraus, erreichten sie eine weitere verfallende Freistadt.
Deckard hatte die Augen gegen den harschen Wind zusammengekniffen und ritt, vonRobyn undArgos flankiert, stadteinwärts.Ratte, Deckards monströses schwarzes Schlachtross, ließ erschöpft den Kopf hängen. Sie waren stundenlang ohne Pause geritten – und Deckard war kein leichter Mann.
Er betrachtete die offensichtliche Armut und bezweifelte, dass dieser Ort je bessere Zeiten gesehen hatte. Die wenigen Gebäude, die aus Stein waren und nicht aus verzogenem blassen Holz, sahen aus, als würden sie gleich auseinanderfallen. Aber das war unwichtig, denn er hatte nicht vor, lange hier zu bleiben.
Glänzende Augen starrten sie forschend aus dunklen Gassen an, lauernde Nadelstiche der Verzweiflung. Nichts Neues. Er und seine Begleiter erregten immer Aufmerksamkeit – Deckard durch seine Größe und die Narben, Argos durch sein makelloses Aussehen.
Er warf einen Blick nach links zu Robyn. Die Ohren ihres Pferdes hörten nicht auf, ängstlich zu zucken, als erwartete es, ohne Vorwarnung geschlagen zu werden. Deckard konnte es dem Tier nicht verdenken – er empfand so ziemlich dasselbe, wann immer Robyn auf Armeslänge herankam. Sie ritt vornübergebeugt gegen den wehenden Staub an und bleckte ihre scheußlich gelben Zähne in einer wütenden Grimasse, die nur selten verschwand. Ihre rechte Hand lag auf dem Knauf ihres Schwertes. Falls sie irgendwer zu lange anstarrte, würde sie ihn wahrscheinlich töten. Nicht dass irgendwer sie je beachtete. Ein räudiger Hund, mager bis aufs Skelett, folgte ihnen ein paar Meter, bis Robyn ihre gelbsüchtigen Augen auf den Köter richtete. Winselnd wich der Hund zurück.
Deckard schaute Argos an. Der Kerl sah so verflucht vollkommen aus wie immer. Nichts auf der Welt konnte seiner ordentlichen Frisur oder dem makellosen Lächeln etwas anhaben.
Was für ein selbstverliebter Arsch.
Straßenstaub kratzte in Deckards ohnehin rauer Kehle, und das nächste Niesen schleuderte einen Batzen hellgrünen Rotz aus seiner Nase. Er fühlte sich schon seit einer Woche angeschlagen, und es gab nicht die Spur einer Besserung.
»Du klingst wie Scheiße, alter Mann«, sagte Argos.
»Es geht mir gut.« Er brauchte ein Gasthaus und ein warmes Bett. Bei den Göttern, für ein Bier hätte er jemanden erschlagen, egal, wie schal es war.
Robyn spuckte auf die Straße und brachte Ratte zum Scheuen. Selbst das Schlachtross hatte Angst vor ihr.
»Der Idiot hat recht«, sagte sie. »Wir sollten dich ins Bett bringen.«
»Das willst du doch schon machen, seit …« Als Robyn ihn wütend ansah, klappte Argos den Mund zu.
Wenn Deckard Glück hatte, brachten die beiden sich gegenseitig um und ließen ihn in Frieden. »Mein Pferd ist müde und mein Arsch tut weh.«
»Dein Pferd ist müde und dein Arsch tut weh, weil du alt und fett bist«, sagte Robyn. Die Ohren ihres Pferdes zuckten bei jedem Wort.
»Wie heißt dieser Pisspott von einer Stadt?« Argos lehnte sich lässig im Sattel zurück, während er die verfallenen Befestigungsanlagen und die schlampig uniformierten, gleichgültigen Wachen betrachtete. Vorsichtig schnupperte er in die Luft und rümpfte übertrieben angeekelt die perfekt geformte Nase. »Ich bitte um Entschuldigung: Dieser Ort ist kein Pisspott, er ist ein Scheißhaus. Völlig anderer Duft.« Er zeigte Deckard sein gerades, blitzend weißes Grinsen. Eine Windböe fuhr durch sein rotbraunes Haar, und einen Moment lang sah er aus wie ein Held: zwei schlanke Schwerter, die hinter seinen breiten S