1. KAPITEL
«Sämtliche politischen Gefangenen sind sofort in Freiheit zu setzen. General Iwanow.»
Wäre der Blitz in das Gouvernementsgebäude von Irkutsk geschlagen, Verwirrung und Aufregung hätten nicht größer sein können. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde von diesem unbegreiflichen Erlass des Oberbefehlshabers durch den Riesenbau.
Alle politischen Gefangenen freigelassen? Ja sogar die bereits zum Tod Verurteilten?! Was war geschehen? War der General wahnsinnig geworden? War eine neue Revolution ausgebrochen?
Wenige Minuten später war das Zimmer des Generals angefüllt von einem Schwarm höherer Beamter und Offiziere, die ihn mit Fragen bestürmten, auf ihn einsprachen. Doch immer nur die eine Antwort aus Iwanows Mund: «Die Gefangenen sind unschuldig. Außerdem liegt ihre Entlassung im Staatsinteresse.»
Waren es wirklich die Worte des Generals oder war es etwas anderes – eine Stimme nach der anderen verstummte. Die erregten Gesichter glätteten sich mehr und mehr ... dann alle in nachdenklichem Schweigen, und dann ... nickten die einen zustimmend, die anderen sprachen laut heraus, es könne gar keinem Zweifel unterliegen, dass das Staatsinteresse die Freilassung der Gefangenen erfordere ... sie seien völlig unschuldig.
War dieser plötzliche Stimmungswechsel der Versammelten schon recht sonderbar, so war auch ihr weiteres Verhalten überaus merkwürdig. Anstatt nun nach Erledigung der Angelegenheit das Zimmer zu verlassen, verblieben sie noch eine volle Stunde bei Iwanow, ohne außer ein paar gleichgültigen Redensarten über die Gefangenen weitere Worte zu wechseln.
Als aber gegen Mittag der General und die anderen das Zimmer verlassen hatten, dauerte es nur wenige Minuten, da gellten nach einer kurzen Besprechung Iwanows mit den anderen Herren bei allen Behörden die Telefonklingeln: «Befehl des Generals, die vor einer Stunde entlassenen politischen Gefangenen sofort wieder zu verhaften und in das Gefängnis einzuliefern.» Bis auf eine der Gefangenen, ein junges Mädchen namens Lydia Allgermissen, wurden die Übrigen alsbald wieder festgenommen.
Am Nachmittag desselben Tages berief Iwanow sämtliche Herren, die am Mittag bei ihm gewesen waren, zu einer Besprechung zu sich. Noch ehe man dazu kam, sich über das Unbegreifliche, Unfassbare, das sich vor ein paar Stunden in diesem Raum zugetragen hatte, auszusprechen, sprangen alle wie auf ein gegebenes Kommando auf und bewegten sich in lebhaften Tanzschritten durch den Raum. Gleichzeitig erschien vor dem Fenster, das nach dem Garten zu ging, ein alter, einfach gekleideter Mann, der sich über das Bild im Zimmer aufs Höchste belustigte. Während seine Hände unaufhörlich den Takt zu dem Tanz im Gouverneurszimmer schlugen, sprudelte sein Mund von heftigen Verwünschungen und boshaftem Gekicher über.
Plötzlich öffnete sich die Tür zu dem Zimmer und ein junger Offizier in Meldeuniform, den Stahlhelm auf dem Kopf, trat herein. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte wie betäubt auf die sonderbare Szene. Dann suchten seine Augen die des Generals, und was er darin las, erfüllte ihn mit schreckhaftem Entsetzen. Angst, Wut, tiefste Beschämung