Kapitel 1
Mai 1791
Die Füße meiner Schwester waren viel zu groß und kräftig.
Ich stellte mein Fernrohr schärfer. Im Grunde waren es Füße, auf denen man ausdauernd laufen konnte. Was Frauen unseres Standes natürlich nie taten. Ich schwenkte das Fernrohr weiter nach oben.
Der helle Fleck in der hintersten Ecke unseres Gemüsegartens, der ein verfrühter Nachtfalter oder eine lauernde Katze sein konnte, wurde zum bauschigen Rock über bauschigen Unterröcken. Eleonore hob sie gerade so hoch, dass ich die gelben Schleifen der Strumpfbänder über ihren Knien sehen konnte. Schon stellte sie einen Fuß auf die Rückenlehne der Bank, auf der wir manchmal saßen, wenn wir ganz für uns sein wollten. Als Nächstes streckte Eleonore beide Hände aus, als suchte sie etwas in der Ziegelmauer hinter der Bank. Unwillkürlich musste ich lächeln. Denn ihr Profil zeigte rührend, wie konzentriert sie war. Vor Anspannung öffneten sich ihre Lippen.
Das, was man eine Schönheit nannte, war meine Schwester nicht. Dazu war ihre Nase zu spitz, ihr Mund zu groß, und von der Stirn bis zum Kinn blühten zu viele Sommersprossen, die auch trotz regelmäßiger Kamillensudumschläge nicht verschwanden. Trotzdem hätte ich auf die Schnelle ein halbes Dutzend junger Männer aufzählen können, die in der Kirche nicht den Blick von Eleonore ließen. Es musste, so vermutete ich, etwas mit ihrem Haar zu tun haben. Kein Hut war groß und kein Reispuder deckend genug, um seine Fülle und Farbe zu verbergen. Je nach Lichteinfall lockten diese Haare mal in der Farbe frisch aufgeschnittener Erdbeeren, mal schimmerten sie ähnlich wie die Ziegel, mit denen gerade das Dach unseres Nachbarhauses neu eingedeckt wurde.
Eleonores eigentliche Attraktivität rührte von ihrer Fähigkeit her, sich überschwänglich über die banalsten Zufälligkeiten des Lebens freuen zu können. Über eine herzförmige Kartoffel etwa, die auf ihrem Teller gelandet war, oder einen Hund am Wegesrand mit einem blauen und einem braunen Auge. Diese Freude speicherte sie in ihren hellgrauen Augen und gab sie bei nächster Gelegenheit Menschen weiter, die ihr über den Weg liefen. Seltsamerweise suchten auch manche Frauen, junge wie alte, die ja in der Regel untereinander konkurrierten, die Nähe meiner Schwester. Vielleicht weil sie hofften, in ihrer Nähe ähnliche Glücksmomente zu erleben. Allerdings war mir aufgefallen, dass es sich dabei meist um etwas verschrobene Personen handelte, über die mein Vater und ich in seltener Einigkeit die Nase rümpften.
Auch Anselm, den ich bei einer Vorlesung Friedrich Schillers über die Gesetzgebung Mose kennengelernt hatte, wo er allerdings ziemlich rasch und als Einziger einschlief, und den ich bald darauf nach Hause einlud, verwandelte sich in Eleonores Anwesenheit. Er wurde nahezu stumm. Zuerst dachte ich, es läge daran, dass mein neuer Freund ein Bauernbub mit einem alten Adelsnamen, aber wenig Erfahrung in gebildeter Konversation war. Als ich den wahren Grund durchschaute, hatte ich, was Anselm betraf, lächerlicherweise schon zu hoffen begonnen. Schlimmer noch, zu träumen.
Aber diese Erinnerung war nicht der Grund, warum mein Herz plötzlich schneller schlug. Gerade als mein Objektiv wieder Eleonores Schultern einfing, wackelte und ruckte es. Im nächsten Moment war meine Schwester verschwunden.
Ein paar Minuten lang presste ich mein rechtes Auge an das Okular, suchte unsere Grundstücksgrenze ab, suchte an der Seite im Gebüsch und schließlich in den Beeten davor. Aber in der schwarzen Erde steckten nur Kohlköpfe, stramm und in exakteren Abständ