Primäre und sekundäre Größe
Als dieTitanic zu ihrer ersten und letzten Reise aufbrach, hatte sie 614 Liegestühle an Bord. Jeden Morgen band die Crew sie los und stellte sie einladend auf, damit die Passagiere es sich an Deck gemütlich machen konnten. Den Passagieren stand es frei, sie nach Belieben umzustellen.1
Vermutlich hat sich zu dem Zeitpunkt, als dieTitanic sank, niemand an den Liegestühlen zu schaffen gemacht. Dennoch ist das »Umstellen der Liegestühle auf derTitanic« zu einer Kurzformel für die Beschäftigung mit Unwichtigem und Trivialem geworden, während es im Leben so viel wichtigere Dinge zu tun gibt.
Liegestühle hin- und herzurücken, ist sicherlich das Letzte, was Sie täten, wenn das Schiff unter Ihren Füßen gerade zu sinken drohte.
Warum ist es dann das erste, was so viele Menschen tun?
Wer Liegestühle schön ordentlich arrangiert, zeigt damit, dass ihm mehr am Schein als am Sein, mehr am Bild als an der Sache selbst gelegen ist. Er zieht seine Prioritätenliste rückwärts auf.
Und genau das tun wir auch. Wir setzen die letzten Dinge an die erste Stelle.
Und das Ergebnis? Verpasste Ziele, gescheiterte Karrieren, zerbrochene Familien, ruinierte Gesundheit, strauchelnde Unternehmen, verlorene Freunde und ein Leben, das in einem Trümmerhaufen unüberlegter Entscheidungen versinkt.
Das passierte auch mit derTitanic, die im Jahr 1912 unterging und dabei 1517 Menschen in den Tod riss. »Safety first« stand ganz unten auf der Liste. Das Schiff hatte mit voller Fahrt gefährliche Eisfelder durchpflügt. Die Rettungsboote reichten nicht für alle Passagiere. Es hatte keine Rettungsübungen gegeben, und als das Unglück geschah, wusste niemand, was zu tun war.2
Wie viele Menschen neigen dazu, unwichtigen Dingen den Vorrang vor wichtigen zu geben?
Wie viele Menschen stellen ihren Eigennutz über das Wohl der Menschen, die ihnen anvertraut sind?
Begegnen wir anderen mit freundlichem Gesicht, nur um hinter ihrem Rücken schlecht über sie zu reden?
Behandeln wir Fremde besser als unsere eigenen Familienangehörigen, an denen uns doch am meisten gelegen sein sollte?
Versuchen wir, möglichst wenig zu geben und dafür möglichst viel zu bekommen?
Riskieren wir für kurzfristige Erfolge das langfristige Gelingen?
Sind uns die Symbole des Erfolgs (Liegestühle) wichtiger als innere Ruhe und Zufriedenheit, Dinge, die sich einstellen, sobald wir einen echten Beitrag leisten (das Schiff retten)?
Stephen R. Covey definiertprimäre Größe als die Art von Erfolg, die sich aus echtem inneren Engagement speist. Die üblichen Erfolgsattribute wie Titel, Beliebtheit, öffentliches Ansehen bezeichnet er hingegen alssekundäre Größe. Das, was wir von Personen der Öffentlichkeit, berühmten Sportlern, Firmenlenkern, Filmautoren und so weiter üblicherweise zu sehen bekommen, ist lediglich die sekundäre Größe.
»Vielen Leuten mit sekundärer Größe – das heißt sozialer Anerkennung für ihre Talente – fehlt es in ihrem Charakter an primärer Größe oder Menschlichkeit. Das zeigt sich früher oder später in all ihren Beziehungen, im Geschäftsleben, in der Ehe, im Freundeskreis oder im Umgang mit einem heranwachsenden Kind, das eine Identitätskrise durchmacht. Was sich letztlich doch konsequent mitteilt, ist der Charakter. Emerson hat das so formuliert: ›Meine Ohren sind so voll von dem, was du bist, dass ich nicht einmal hören kann, was du sagst.‹«3
Ein gelungenes Leben ist von primärer Größe geprägt – es zeichnet sich durch Pflichterfüllung, Ehrenhaftigkeit, Authentizität, Beharrlichkeit, Selbstzurücknahme und Dienstbereitschaft aus, ungeachtet der Umstände und des materiellen Lohns. Alle diese Qualitäten beruhen auf natürlichen, universellen und unverbrüchlichen Prinzipien. Diese Prinzipien gelten für jeden Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit. Ohne primäre Größe gibt es auch keine sekundäre Größe. Auf dem Treibsand äußerlicher Moden lässt sich kein gelungenes Leben führen. Dafür braucht es ein Fundament aus unveränderlichen Prinzipien.
Interessanterweise gesellt sich zur primären Größe häufig, wenn auch nicht immer, die sekundäre Größe. Menschen mit gutem Charakter sind auch im Leben erfolgreich, weil andere ihnen Vertrauen schenken. Mit ihrer Bereitschaft, hart zu arbeiten, erwe