: Hubert Dreyfus, Charles Taylor
: Die Wiedergewinnung des Realismus
: Suhrkamp
: 9783518744376
: 1
: CHF 27.00
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 316
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anhand von Begriffen wie Dasein, Zeitlichkeit und Verkörperung und in Rückbesinnung auf eine Traditionslinie, die von Aristoteles bis zu Heidegger und Merleau-Ponty reicht, skizzieren Hubert Dreyfus und Charles Taylor ein radikal neues erkenntnistheoretisches Paradigma, das den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, der auch in ethisch-politischer Hinsicht einheitsstiftende Kraft hat. Es ist der endgültige Abschied von René Descartes - souverän inszeniert von zwei der bedeutendsten Denker unserer Zeit.

<p>Hubert Dreyfus, geboren 1929, war Professor für Philosophie an der Universität von Kalifornien, Berkeley. Berühmt geworden ist er durch seine kritische Auseinandersetzung mit der Künstlichen Intelligenz, aber auch durch seine Interpretationen von Husserl, Sartre und Foucault. Außerdem galt er als einer der besten Heidegger-Kenner weltweit. Dreyfus war Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und Träger zahlreicher Auszeichnungen. Er starb am 21. April 2017.</p>

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Wie man dem Bild entkommt


Natürlich muß man, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß die vermittlungsgebundene Auffassung ein »Bild« im Sinne Wittgensteins – und zwar ein Zerrbild – ist, den Argumenten nachgehen, die zur »Dekonstruktion« dieser Auffassung geführt haben. Sofern die gegen Ende des 1. Kapitels vertretene These zutrifft, wonach der im Rahmen unserer Kultur geführte Kampf, in dem diese Dekonstruktion zum Tragen kommt, seit mindestens zwei Jahrhunderten ausgefochten wird, gilt auch, daß der Vorgang der Widerlegung und der Entstehung des neuen, des modernen Kontaktansatzes ebenfalls schon seit geraumer Zeit im Gang ist.

Es gibt zwei Hauptachsen der Widerlegung. Wie schon gesagt, faßt das verfehlte Bild die Erkenntnis als (richtige) innere Repräsentation der äußeren Realität auf. (1) Eine Linie der Widerlegung besteht nun in dem Nachweis, daß wir die Welt nicht ausschließlich repräsentational erfassen können. Freilich, Repräsentationen spielen beim Vorgang des Erfassens eine Rolle, aber sie machen nicht das Ganze, ja nicht einmal den entscheidenden Teil des Ganzen aus. (2) Doch dem ursprünglich von Descartes hergeleiteten, vorherrschenden Bild zufolge befindet sich das innere Bild im Geist des einzelnen. Nach der richtigen Interpretation sei es nicht nur so, daß die Erkenntnis aus Repräsentationen besteht, sondern überdies sei ihr Ort in erster Linie der Geist von Einzelpersonen. Deren Geist sei zwar zu wechselseitigem Austausch mit dem Geist der anderen imstande, und außerdem könne es die eine oder andere Form der sozialen Bündelung – etwa in Bibliotheken, Lexika und Websites – geben, aber dieses gemeinschaftliche Wissen sei letzten Endes eine Verknüpfung der Erkenntnisse von Einzelwesen. Der Aufbau gültiger Erkenntnis aus dem ursprünglichen Input sei vor allem ein monologischer Prozeß. Es ist diese These des monologischen Vorgehens, die von der zweiten Widerlegungsstrategie aufs Korn genommen wird. Dabei geht es darum, zu zeigen, daß unser Weltverständnis vor allen Dingen etwas Gemeinsames ist, das erst in zweiter Linie an jeden einzelnen von uns weitergegeben wird, indem wir in die Sprache und die Kultur unserer jeweiligen Gesellschaft eingeführt werden. Selbstverständlich kann jeder einzelne von uns anschließend Zusätze und Veränderungen anbringen, die dann jedoch einen zunächst einmal gemeinsamen Vorrat betreffen, den jeder von uns von außen empfängt.

Die erste Widerlegungsstrategie zielt auf den Primat der Repräsentation überhaupt, während die zweite Widerlegungsstrategie dieindividuelle Repräsentation – die Vorrangstellung des Monologischen – aufs Korn nimmt.

In den folgenden Kapiteln halten wir uns zunächst an die erste Strategie. Hält man sich an diese Strategie, so geht der Schachzug, mit dem man die Partie eröffnet, in einem bestimmten Sinn auf Kant zurück, obwohl er in maßgeblichen Hinsichten der vermittlungsgebundenen Auffassung verhaftet blieb. Hegel wiederum repräsentiert ein weiteres wichtiges Stadium. Aber eigentlich ist der Alternativansatz nicht vor der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert vollständig zum Ausdruck gebracht worden.

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Diese erste Widerlegungs- bzw. Dekonstruktionsstrategie umfaßt, wie nicht anders zu erwarten, eine Vielzahl von Einzelsträngen. Einer dieser Stränge ist der Angriff auf den Mythos des Gegebenen, also die Vorstellung, un