: Dieter Gosewinkel
: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert
: Suhrkamp
: 9783518742273
: 1
: CHF 36.00
:
: Politische Theorien und Ideengeschichte
: German
: 772
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Staatsbürgerschaft war im 20. Jahrhundert das Signum politischer Zugehörigkeit in Europa. Sie entschied über Schutz und Freiheit eines Menschen und damit über seine Lebens- wie Überlebenschancen. Erzählt wird hier erstmals eine gemeinsame Geschichte der Staatsbürgerschaft in West- und Osteuropa von der Hochphase des Nationalstaats bis in unsere Gegenwart, die von den Krisen der europäischen Union geprägt ist. Es ist die Geschichte einer zentralen rechtlichen Institution, die Kämpfe um Migration, Integration und Zugehörigkeit maßgeblich repräsentiert und zugleich bestimmt. Welche Lehren aus ihr mit Blick auf die Zukunftschancen einer europäischen Staatsbürgerschaft zu ziehen sind, ist eines der Themen dieses Buches.

<p>Dieter Gosewinkel ist Professor für neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Leiter der Forschungsgruppe »Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa« am Wissenschaftszentrum Berlin.</p>

31Kapitel I
Vielfalt und Abgrenzung
Nationale und imperiale Politik der Staatsbürgerschaft um 1900


Europa um 1900 war ein Kontinent im Umbruch. Europäische Imperien beherrschten die Welt und rangen um Einflusssphären in Übersee ebenso wie in ihren eigenen Staaten. Um die territoriale Abgrenzung von Machtsphären und die Herrschaft über Personen wurden entscheidende Auseinandersetzungen mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ausgetragen. Noch beschränkten sich – überraschenderweise angesichts der weltweiten Gewaltausbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die gewaltsamen militärischen Auseinandersetzungen auf Gebiete außerhalb Europas.[1] Doch auch auf dem europäischen Kontinent wurde der Status quo imperialer Machtverteilung zunehmend in Frage gestellt und vielfach heftig bekämpft. Die nationalen Bewegungen Ostmitteleuropas zum Beispiel kämpften um eine politisch und kulturell selbstbestimmte Staatlichkeit. So drängten Tschechen und Slowaken aus dem Verband der habsburgischen Doppelmonarchie heraus. Der Kampf der Polen – das heißt der Menschen mit polnischer Nationalität – um die Wiedergewinnung ihrer ein Jahrhundert zuvor zerstörten Staatlichkeit setzte die Teilungsmächte Russland und Österreich wie auch das Deutsche Kaiserreich unter Führung Preußens politisch unter Druck. Im Westen des Deutschen Reiches stürzte die Annexion Elsass-Lothringens das Verhältnis zu Frankreich in eine latente Dauerkrise und erzeugte hier ebenso wie im annektierten Nordschleswig starke separatistische Bestrebungen. An den westlichen und südlichen Rändern des europäischen Kontinents verloren imperiale Mächte an Einfluss. Spanien, Portugal und die Niederlande waren im Kampf um überseeische Territorien und Einflusssphären längst von den ›neuen‹ Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich und Deutschland zurückgedrängt worden. Auf dem Balkan hatten sich mit Grie32chenland, Bulgarien und Rumänien neue Nationalstaaten aus dem in Auflösung begriffenen Osmanischen Reich gebildet. Serbien mit seiner starken Nationalbewegung kämpfte um seine endgültige Trennung vom Habsburgerreich. Großbritannien war aufgrund der geographischen Sondersituation der Insel und der territorialen Ausrichtung des British Empire auf maritime, überseeische Interessen zwar nicht direkt beeinflusst von den nationalpolitischen Spannungslinien, die den Kontinent durchzogen, stand aber vor einem eigenen nationalen Konfliktherd: dem Sezessionsstreben der Iren.[2] Insgesamt, so wird in der Rückschau aus dem 21. Jahrhundert deutlich, zeichnete sich die Dämmerung der alten europäischen Imperien ab. Der Kampf um territoriale Einflusssphären außerhalb und innerhalb des europäischen Kontinents verschärfte sich in den imperialen Metropolen noch durch nationalistische Bestrebungen, wie das Beispiel des Deutschen Kaiserreichs zeigt.[3] Mehr noch: Die imperialen Ambitionen gerieten in Widerspruch, ja scharfen Gegensatz zu den starken nationalen Bewegungen. Die Kampflosung der nationalstaatlichen Autonomie trug einen revolutionären Sprengsatz in den während des langen 19. Jahrhunderts scheinbar fest gefügten politischen Bau Europas.

Das Jahr 1900 stellt keine Zäsur in der europäischen Geschichte dar, aber es illustriert einen Wandel. Die Spanne zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die Hochzeit des europäischen Imperialismus. Sie le